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Wien – eine post-soziale Stadt?

Findet in Wien ein Wandel hin zum Post-sozialen statt? Der Soziologe Christoph Reinprecht sprach über sozialen Wandel in der Geschichte Wiens und die Bedeutung des Sozialen heute.

Reinprecht eröffnete seinen Vortrag am 24. November in der GBW mit der These der post-sozialen Stadt, was erklärt werden könnte mit „Stadt, die das Soziale hinter sich lässt”. Diese These auf Wien anzuwenden sei in gewisser Weise ein Paradoxon, da die Sozialausgaben österreichweit steigen. Wien investiere große Summen in den Ausbau sozialer Dienste und im Bereich des sozialen Wohnbaus, so der Soziologe. Gemessen an den Ausgaben könne man keinen Trend zum Post-sozialen sehen. Andererseits steigt die kollektive Verarmung, immer mehr Menschen fallen aus einem Sozialsystem, rechte Tendenzen nehmen zu. Dieses Paradoxon wird unter dem Gesichtspunkt des neoliberalen Paradigmas viel diskutiert.

Die soziale Stadt.
Wenn in der Soziologie von der sozialen Stadt gesprochen werde, dann meine man üblicherweise zwei Dinge – zum einen die soziale Stadt im Sinne einer guten Stadt. Ein Ort des Zusammenhalts, der Solidarität erzeugt, sich anpasst an die Bedürfnisse der Menschen. Die genaue Definition müsse stets verhandelt werden, so Reinprecht. Der zweite Aspekt sei der einer sozial gerechten Stadt. Darunter fallen etwa die Verringerung sozialer Ungleichheiten oder Integrationsmaßnahmen. Forschungen zur sozialräumlichen Verteilung in Wien kämen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass soziale Segregation sehr niedrig sei, meint Reinprecht. Die Ungleichverteilung zwischen Bevölkerungsgruppen sei also sehr gering. Bei solchen Forschungen müsse man jedoch darauf achten, nach welchen Kriterien untersucht wurde. Nicht selten führen solche Studien zu einer irreführenden Interpretation, so Reinprecht.  Die Beschäftigungsrate in Wien sei zwar relativ hoch, aber bei neu hinzukommenden Beschäftigungsverhältnissen handele es sich primär um prekäre, so der Soziologe. Gerade der Dienstleistungssektor im urbanen Bereich sei davon betroffen.

Wachstum und Migration.
Wien sei eine dynamisch wachsende Stadt, und der Begriff des Wachstums werde sehr positiv von der Stadt besetzt, denn Wachstum bedeutet Attraktivität. Mit dem Wachstum gehe Migration einher, in Wien sind das vor allem Leute mit relativ hohem Bildungsgrad, aus dem In- und Ausland. Sie bringen viele Ressourcen mit. Gleichzeitig führen die Wirtschaftskrise und der Strukturwandel der Arbeit zu mehr Armut.

Sozialer Wandel in der Industrialisierung.
Reinprecht macht einen kleinen geschichtlichen Exkurs. Die Industrialisierung im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts initiierte einen sozialen Wandel. „Der wilde Kapitalismus kam auf und brachte eine starke Bevölkerungsmobilität und Wachstum mit sich. Die Einwohnerzahl Wiens stieg zwischen 1850 und 1910 von 400.000 auf zwei Millionen“, erklärt er. Der Konflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital lebte auf. In der Stadt herrschte hohe Dichte und starke sozioräumliche Segmentierung. Es gab eine Trennung entlang der Klassen, die bürgerlichen innerstädtischen Bezirke versus die Außenbezirke. „Der öffentliche Raum wurde zur Arena für den Klassenkampf,“ so Reinprecht.

Die frisch angeworbenen Industriearbeiter bewohnten Baracken und Mietskasernen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts intervenierte die Stadt vermehrt. Im frühen 20. Jahrhundert gab es schon sozialen Wohnbau, die wirklich Armen wurden davon aber wenig erfasst. Nur Gemeindebedienstete und die Arbeiterklasse durften hier wohnen. Hier fand schon eine frühzeitige Differenzierung statt.

Anfangs waren viele private Bauunternehmen Anbieter, später auch Genossenschaften und lokale Politiker. Im Feld der Akteure hatte jedoch der Hauseigentümer eine nachhaltige Rolle, so Reinprecht. Das Soziale sei hier stark mit der Wohltat verknüpft gewesen, wurde dann zur Sozialutopie und später zur Massenemanzipation. „Wohnen war hier ein Element der Emanzipation und damit auch der Lebensführung“, so Reinprecht. Wohnen bedeute auch Teilhabe an der Stadt, wie Henri Lefèbvre in „Das Recht auf Stadt“ schreibt. Mit den Ärmsten hingegen wurde der Begriff der gefährlichen Klasse verknüpft.

Der Wohlfahrtsstaat.
Im Wohlfahrtsstaat von 1945-1989 waren immer noch Massenproduktion und nationale Wohlfahrtsregime vorherrschend. Wien habe im Unterschied zu vielen anderen Städten in dieser Zeit keine verstärkte Industrialisierung und kein verstärktes Wachstum erfahren, sondern ist wirtschaftlich quasi stagniert. Die Bevölkerungszahlen gingen zurück. Effekte wie Ausdehnung, die in anderen Städten stark hervortraten, fand man hier nicht vor.

Trotzdem hat sich in der Stadtentwicklung viel getan: Suburbanisierung fand statt, Großwohnanlagen wurden gebaut. Die Wohnformen hier waren der Gemeindebau und der geförderte Wohnbau, die Zielgruppe war der männliche Erwerbsarbeiter mit seiner Familie. Er herrschte das strenge Kriterium der österreichischen Staatsbürgerschaft. Ein paternalistisches System, so Reinprecht: „Das Soziale wurde stark gerahmt vom versorgenden Staat.“ Die ganz Armen waren nicht länger die gefährliche Klasse, sondern wurden als Problem definiert, das über sozialpolitische Maßnahmen gelöst werden soll.

Und heute post-sozial?
Heute dominierten flexible Produktion, der flexible Kapitalismus, Globalisierung, Prekarisierung und die Schwächung der politischen Akteure, und damit die Schwächung eines Teils des Rahmens. Als weiteres Phänomen benennt Reinprecht die gleichzeitig steigende Alterung und Migration. Sozioökonomische Polarisierung und Ungleichheit würden stärker. Zudem lasse sich eine zunehmende Privatisierung des sozialen Sektors beobachten, so Reinprecht.

Der Begriff des Sozialen sei fragmentiert, der Konsens über seine Bedeutung sehr brüchig geworden, beobachtet Reinprecht. Im Bereich der Mittelklasse lasse sich eine starke Individualisierung des Sozialen beobachten. Als Beispiel nennt Reinprecht hier das Sonnwendviertel oder die Seestadt Aspern: Die Erwartungen der Menschen, die in diese Gebiete ziehen, seien in hohem Maße individualisierte Erwartungen. Ihr Verständnis des Sozialen sieht er als geprägt von Partizipation und Verantwortung. Die ganz Armen würden jedoch zurück gedrängt in die Wahrnehmung der „gefährlichen Klasse“. Wenn man sich den sozialpolitischen Diskurs der rechten politischen Szene ansehe, dann lasse sich eine starke Verknüpfung von der Frage der Armut mit der Frage der Delinquenz, Kontrolle, Prävention, und Bestrafung beobachten. Was heißt das dann für die soziale Integration? Integration funktioniere derzeit nur über Erwerbstätigkeit, da man nur darüber Anspruch auf die vollen sozialen Leistungen habe.

Die Autorin Sarah Nägele studiert Journalismus und Neue Medien an der FH Wien und ist Mitglied im GBW Redaktionsteam.