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Anfassen, was uns anfasst.

Das Unfassbare anfassen? Gentrifizierung ist kein abstraktes Phänomen, sondern konkretes Geschehen. Diesmal: im 15. Bezirk.

Der zweite Stadtspaziergang in der Reihe „Gentrifizierung zum Anfassen“ fand am 30. Mai 2015 statt. Diesmal führte Bettina Köhler mit Elisabeth Ettmann von den Nachbarschaftsprojekten „Samstag in der Stadt“ und „Nebenan“ in den Süden des 15. Wiener Gemeindebezirks Rudolfsheim-Fünfhaus: vom Schwendermarkt über die Reindorfgasse zum Sparkassaplatz.

Erklärtes Ziel eines „Stadtspaziergangs“ ist es, keine einseitige „Führung“ zu sein, erläutert Köhler zu Beginn. Alle Teilnehmer*innen bringen während des Gehens ihr Wissen ein. Diese flache Hierarchie ermöglicht den diesmal rund zehn Beteiligten einen regen Austausch.

Vom Vorort zum Bezirk.
Treffpunkt war der Vorplatz der Volkshochschule Rudolfsheim-Fünfhaus. Dort stand im 19. Jahrhundert das Vergnügungsetablissement „Kolosseum“ von Karl Schwender: eine beliebte und politisch relevante Räumlichkeit für die Arbeiterschaft. Das Grätzl war aufgrund seiner Lage knapp außerhalb des damaligen Linienwalls sehr belebt, Waren ließen sich dort billiger kaufen als innerhalb des Walls. (Siehe Bild 2.) Laut Elisabeth Ettmann erzählen ältere Bewohner*innen noch heute von ihren offensichtlich erlebnisreichen Weihnachtseinkäufen in der Gegend um den Schwendermarkt. Heute hingegen zählt der Bezirk zu den ärmsten in Wien, exemplarisch dafür: Nur ein Drittel der Bevölkerung ist wahlberechtigt.

Begriffe der Gentrifizierung.
Die von Ettmann mitangestoßene Initiative „Nebenan“ in der Schwendergasse 30 bietet allen Wohnenden und Interessierten ein „offenes Wohnzimmer“. Im Rahmen einer Zwischennutzung wird der frühere Leerstand als Ort ohne Konsumzwang genutzt: Regelmäßig finden dort Workshops und andere Veranstaltungen statt, unterschiedliche Gruppen finden hier einen gemeinsamen Aktionsraum. Ein Teilnehmer des Spaziergangs fragt, ob solche Räume nicht Gefahr laufen als „Motor der Gentrifizierung“ zu wirken: Gerade in offenen Räumen könnten einzelne Personen oder Gruppen unbemerkt stärker werden und damit andere verdrängen. Ettmann greift den kritischen Einwand auf: Man müsse solche Veränderungen mit offenen Augen und Ohren wahrnehmen und verhindern. Ihr läge viel daran, niemanden auszuschließen.

Der Begriff der Gentrifizierung wird heute aber nicht mehr nur in Bezug auf das Problem der Verdrängung verwendet. Köhler weist auf die anderen Verwendungen des Gentrifizierungs-Begriffs hin: Zwar stammt er aus einem eminent kritischen Diskurs, in welchem er die räumlich-soziale Verdrängung von Schwächeren durch Stärkere angreift. Aber mittlerweile wird er zumindest auf zwei weitere Weisen verwendet: Erstens affirmierend, im Sinn der „Aufwertung“ und Erhöhung der Kaufkraft einer Gegend. Zweitens beschreibend, im Sinne einer neutralen Darstellung sozialer Veränderungen. Köhler macht aber darauf aufmerksam, dass diese deskriptive und vielleicht nur scheinbar neutrale Verwendung das Fragen nach den Gründen dieser Veränderungen verdeckt. Diese können kulturelle, politische und/oder ökonomische sein.

Lücken kann man nicht fassen.
Etwa könnten Immobilien-Investor*innen meinen, dass ihr Kauf einer bereits leerstehenden Fläche keine gentrifizierenden Aspekte aufweise: nach dem Motto „wenn man nichts sieht, dann ist da auch nichts“. Wie es allerdings zu diesem Leerstand gekommen ist, kommt unter dieser Perspektive nicht ins Blickfeld. Häufig sind es Spekulant*innen, welche Räume leer stehen lassen: Stichwort „rent gap“. Als „rent gap“ oder „Mietlücke“ wird der Unterschied zwischen der tatsächlich eingenommenen und der möglichen Miete bezeichnet. Manch leer stehender Raum ist ein Spekulationsobjekt: Lieber wird er unbewohnt oder unbewirtschaftet gelassen, wenn der Gewinn durch eine spätere Miete höher ist. Dass die Räumlichkeiten überhaupt leer werden, kann aber auch dadurch zustande kommen, dass sich manche Menschen die nach Sanierung ihrer Wohnung gestiegene Miete nicht mehr leisten können.

Der Spaziergang führt nach dem Schwendermarkt in die Reindorfgasse. Sie ist seit einigen Jahren Ziel des Projekts „einfach15“. Köhler bittet einen der lokalen Händler und Aktivisten über seine Situation zu berichten. Daraus entsteht eine lebhafte Diskussion über mögliche Maßnahmen gegen Gentrifizierung. Denn für den Händler stellt die Aufwertung des Grätzls den einzigen wirkungsvollen Schritt in der Verhinderung von Abwanderung dar. Sofort regen sich in der Gruppe die Gemüter: Nicht nur Abwanderung, sondern vor allem Verdrängung versuche ja der Begriff der Gentrifizierung zu fassen. Doch der Aktivist lässt nicht locker und plädiert für mehr Partizipation der Bewohner, um das Grätzl gemeinsam schöner zu machen: Das heiße für ihn Aufwertung. Das hitzige Gespräch muss aber leider wegen des nahenden Endes abgebrochen werden. Aber „Gentrifizierung zum Anfassen“ heißt eben auch, dass das Angefasste auch zurück fassen kann.

Links.






Empfehlungen von Bettina Köhler.

Holm, Andrej: Wir Bleiben Alle! Gentrifizierung - Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung. Münster: Unrast 2010.

Der Autor, Andreas Dittrich, studiert Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaften und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.