Springe zur "Navigation" Springe zum "Inhalt" Springe zum "Footer" Springe zur "Startseite"

Arbeitszeit(verkürzung) – ein Interview.

Der Sozialwissenschaftler Michael Schwendinger befasst sich wissenschaftlich mit dem Thema Arbeitszeit und gibt Einblick in seine Forschung. Er studierte in Wien Internationale Entwicklung und VWL.

GBW: Du hast dich während und nach deinem Studium wissenschaftlich mit dem Themenkomplex Arbeitszeit befasst. Was genau hast du untersucht?

Schwendinger: Zuletzt habe ich für die Arbeiterkammer Wien eine Studie mit den Mikrozensusdaten der Statistik Austria gemacht – das ist die umfassendste Haushaltsbefragung Österreichs mit jährlich rund 90.000 befragten Haushalten. Die zentrale Forschungsfrage lautete, ob unselbständig erwerbstätige Österreicher*innen überhaupt kürzer arbeiten wollen. Konkret wurde verglichen: Wie lange wollen die Menschen arbeiten, und wie lange arbeiten sie tatsächlich? Bei der Analyse dieser Daten stellte sich heraus, dass 17,5 Prozent der unselbständig Beschäftigten kürzer arbeiten möchten, nämlich im Schnitt insgesamt 35 Minuten kürzer, während 8,7 Prozent länger arbeiten wollten. 73,8 Prozent wollen gleich lange arbeiten.

GBW: Wunderbar! Dann könnte man in schwierigen Arbeitsmarktzeiten einfach das Volumen der Verkürzungswünsche durch die durchschnittliche Arbeitswoche dividieren. Was käme da heraus an zusätzlichen Vollzeitarbeitsplätzen?

Schwendinger: Rund 50.000 sogenannte Vollzeitäquivalente. Aber das ist ein Irrtum, dass das Schaffen von Arbeitsplätzen so einfach geht. Dem ist leider nicht so, weil mitunter spezielle Qualifikationen fehlen, oder weil bestimmte Branchenspezifika das nicht zulassen. Auch organisatorische Beschränkungen, wie zum Beispiel nicht vorhandene Räume und spezielle Arbeitsplatzanforderungen können hinderlich wirken. Aber trotzdem gilt es zu diskutieren und anzustreben, dass wenigstens ein gewisser Prozentsatz dieses Volumens der Verkürzungswünsche in Arbeitsplätze umgewandelt wird.

GBW: Wie ist die Diskussion um Arbeitszeitverkürzung entstanden? Warum erscheint das Thema gerade jetzt so aktuell und wie sieht es mit Lohnausgleich aus?

Schwendinger: Die Diskussion ist keineswegs neu. Seit 150 Jahren, seit Anbeginn des industrialisierten Kapitalismus, wird – gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten – immer wieder kontrovers über Arbeitszeitverkürzung, aktuell etwa das Beispiel Freizeitoption oder die 30-Stunden-Woche, diskutiert. Die Argumente der Gegner*innen und Befürworter*innen haben sich nicht geändert, die Diskussion kommt nicht vorwärts: Befürworter meinen, Arbeitszeitverkürzung bringt mehr Beschäftigung. Gegner sagen, Arbeitszeitverkürzung ist zu teuer, kostet Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftsleistung. Für mich liegt die Wahrheit eher in der Mitte: Weder ist Arbeitszeitverkürzung ein Allheilmittel, noch ist sie völlig abzulehnen. Im 19. Jahrhundert haben die Menschen über 60, 70 Stunden gearbeitet. Später wurde die 48- und 40-Stunden-Woche eingeführt, Produktivität, Beschäftigung, Output und Exporte stiegen, die Wirtschaft wuchs – und wie der berühmte Soziologe und Ökonom Max Weber in den 1930er Jahren sinngemäß schon sagte: „Wenn nicht wegen, so zumindest trotz der Arbeitszeitverkürzung.“ Oder nehmen wir das aktuelle Beispiel der , die es Betrieben ermöglicht, in konjunkturschwachen Zeiten Mitarbeiter*innen in einem geringeren Ausmaß zu beschäftigen, während das AMS einen Teil des Lohnentgangs für diese Menschen übernimmt. Im Hochverdiener*innensektor gibt es außerdem die Option Teilzeit zu arbeiten, allerdings ohne Lohnausgleich. Ein anderes Modell wäre noch die sogenannte Freizeitoption.

GBW: Freizeitoption? Klingt gut, aber auch, als müsste ich mich gleichzeitig gegen eine andere Option entscheiden. Gegen Geld?

Schwendinger: Richtig, es geht darum, mehr Freizeit statt Geld zu bekommen. Ich habe hier Gewerkschaftsdaten der Elektro- und Elektronikindustrie ausgewertet, auch Interviews mit Betriebsrät*innen geführt. Mitarbeiter*innen hatten und haben per Kollektivvertrag die Möglichkeit, statt der alljährlich verhandelten Entgelterhöhungen eine Reduktion der Arbeitsstunden in Anspruch zu nehmen. Ursprünglich war diese Option nur für ältere Mitarbeiter*innen gedacht. Inzwischen kann sie aber für alle Altersgruppen insgesamt viermal, nämlich zweimal unter 50 Jahren und zweimal über 50 in Anspruch genommen werden – bei gleichzeitigem Verzicht auf die kollektivvertragliche Lohnerhöhung.

GBW: Wie viele Prozent der Mitarbeiter*innen nehmen die Freizeitoption in Anspruch?

Schwendinger: Etwa 15 bis 20 Prozent der Mitarbeiter*innen in der Elektro- und Elektronikindustrie wollten diese Option in Anspruch nehmen, jedoch wurden nicht alle Anträge genehmigt. Letztlich konnten rund zehn Prozent die Freizeitoption auch tatsächlich in Anspruch nehmen. Das hing von verschiedenen Faktoren ab, beispielsweise auch den Vorgesetzten.

GBW: Leben, um zu arbeiten, oder arbeiten, um zu leben? Vollzieht sich da gerade ein Wertewandel?

Schwendinger: Die Ergebnisse weisen darauf hin. Entgegen den Erwartungen ist Arbeitszeitverkürzung gerade für die jüngere Generation ein relevantes Thema. Die plus minus 30-Jährigen wollen nicht mehr leben, um zu arbeiten. Wichtiger sind ihnen Werte wie Familie, mehr Zeit für persönliche Interessen, Kreativität und Ehrenamt.

GBW: Du selbst gehörst altersmäßig zu dieser Generation. Was hat dein Interesse für diese arbeitsintensive und eher trockene Materie der Arbeitszeit(verkürzung) geweckt?

Schwendinger: Da muss ich gleich widersprechen! (schmunzelt) Das Arbeitszeit-Thema ist für mich gerade wegen seines Querschnittscharakters so spannend. Hier spielen Beschäftigungspolitik, Gendergerechtigkeit, Gesundheitspolitik, ökologische Aspekte, Wohlfahrts- und Sozialpolitik, aber auch Familienpolitik hinein. Aber zur Ausgangsfrage: 2013 hat mich ein Artikel in der „“ zu einer Offenen-Brief-Forderung nach einer 30-Stunden-Woche als Ausweg aus der Krise veranlasst, über das Thema genauer nachzudenken. Schließlich befinden wir uns in einer vielfältigen Krise und wie kann da eine einzelne Maßnahme die allumfassende Lösung sein? So kam es, dass ich mich in weiterer Folge in meiner Diplomarbeit zum ersten Mal wissenschaftlich mit dem Thema Arbeitszeitverkürzung auseinandergesetzt habe. Danach folgte das Gewerkschaftsprojekt mit der Untersuchung der Freizeitoption. Und zuletzt habe ich die eingangs besprochene Arbeiterkammer-Studie gemacht.

GBW: Was meinst du, wird uns die Arbeit infolge der rasanten technischen Entwicklungen ausgehen? Was passiert dann mit dem verbliebenen Arbeitskräftepotential?

Schwendinger: Ich würde mir eine intelligente Umverteilung zu weniger Arbeit für alle wünschen. Denn eine gespaltene Gesellschaft mit immer mehr arbeitslosen und dadurch auch stigmatisierten Menschen wäre nicht nur sozial- und budgetpolitisch eine Herausforderung. Ausgeschlossenheit birgt immer auch Spannungs- und Aggressionspotenzial mit einer Radikalisierungsgefahr.

Keynes hat übrigens bereits 1930 vor dem Hintergrund der Großen Depression in seinem bekannten, utopischen darauf hingewiesen: Das größte Problem, wenn die Menschen in 100 Jahren nur mehr 15 Stunden pro Woche arbeiten, werde sein, sie von der Arbeit zu entwöhnen.

GBW: Wagen wir abschließend noch einen politischen Ausblick: Wo siehst du aufgrund deiner Forschungsergebnisse Handlungsbedarf und Empfehlungen für die Politik?

Schwendinger: In Belangen der Arbeitszeitverkürzung gibt es keine Pauschallösungen und Empfehlungen, die für alle Menschen, Branchen und Konjunkturphasen gleich gelten können. Vielmehr braucht es situativ und individuell viele, kleine Schritte gesetzlicher Nachschärfungen sowie Pilotprojekte, wo verschiedene Modelle von Arbeitszeitverkürzung und -umverteilung in der Praxis ausprobiert werden – wie es beispielsweise die versucht hat. Ich denke, Veränderungen am Arbeitsmarkt vollziehen sich heute so rasant, dass sich die gesamte Diskussion um Arbeitszeitverkürzung auf den Kopf stellen wird. In zehn Jahren werden wir vielleicht schon völlig andere Voraussetzungen als heute vorfinden. Meinte übrigens auch Brigitte Ederer (Anm. ÖBB-Aufsichtsratsvorsitzende, ehem. Politikerin) in einem Interview, das ich im Zuge meiner Forschungsarbeiten vor einiger Zeit mit ihr geführt habe.

GBW: Vielen Dank für das Interview!

Links.

2 Blogeinträge zu AK-Studien:

 

 

 

Das Interview führte Karina Böhm, Mitglied des GBW Wien-Redaktionsteams, am 12. April 2016.