Beschleunigung bis zum irreparablen Motorschaden
von Julia Seewald
„Wir sind bereits ins Zeitalter der Idiotie eingetreten“, so lautet die ernüchternde Analyse des deutschen Politökonomen Elmar Altvaters in seinem kürzlich in Emanzipation erschienenen Artikel
Wachstum als Fetisch der globalen kapitalistischen Gesellschaft
Wachstum wird uns heute erneut als das Wunderheilmittel in der Krise verkauft, doch laut Altvater etablierte sich Wachstum im Wohlfahrtskapitalismus als Fetisch gesellschaftlicher Entwicklung. Ihren Ursprung hat diese Entwicklung in der letzten großen Krise der 1930er Jahre, als Wachstum zur Alternative zu Depression, Faschismus und Kommunismus wurde. Der kapitalistische Westen befand sich in seiner bis dahin tiefsten Systemkrise, während die junge Sowjetunion mit erstaunlichem Wachstum wirtschaftlich voranschritt. Wachstum wurde nun zum maßgeblichen Indikator im Machtkampf des Kalten Krieges. Den Kuchen wachsen und damit alle gewinnen zu lassen, erschien im Wohlfahrtskapitalismus als geniale Möglichkeit, sich Verteilungskämpfe zu ersparen. Seither hinterfragt kaum jemand Notwendigkeit und Nutzen von Wachstum und nur wenige fordern eine Verteilungs- statt einer Wachstumsdebatte.
Seit dem Vormarsch eines neoliberalen Kapitalismus ab den 1980er Jahren verschwanden Verteilungsfragen endgültig von der Tagesordnung. De facto findet eine Umverteilung nach oben statt und Wachstum gilt weiter als sozial verträglicher, „machbarer“ Ausweg aus der Krise.
Der missachtete Doppelcharakter wirtschaftlicher Prozesse
Der Wachstumswahn blendet den Doppelcharakter aller wirtschaftlichen Prozesse aus, meint Altvater. Prozesse der Verwertung, sprich der Gewinnerzielung, sind in ihrer Gestalt zwar endlos, die Transformationsprozesse von Stoffen und Energie jedoch nicht! Das Material und die Energie für Produktionsprozesse werden nach wie vor aus der Natur abgeschöpft, überwiegend in der Form fossiler Rohstoffe. Eine weitere Beschleunigung von Wachstum sei demnach nur möglich, wenn diese zwei Seiten des widersprüchlichen Prozesses voneinander entkoppelt werden könnten. Einige Wachstumskritiker*innen - die wie Altvater bemerkt nicht immer mit Kapitalismuskritiker*innen gleichzusetzen sind - setzen auf effizientere Technologie und höhere Produktivität im Arbeitsprozess, um das Wachstumsdilemma zu umgehen. Dabei wird allerdings ignoriert, dass zwar die ökologischen Folgen pro produzierter Einheit reduziert werden, durch die Produktionsausweitung aber die Gesamtauswirkung nicht sinkt. Ein logischer nächster Schritt dieser Entkoppelung sei das Geoengineering, allerdings habe schon Albert Einstein darauf verwiesen, dass ein Übel nicht mit denselben Mitteln bekämpft werden könne, die es hervorgerufen haben.
Wachstumswahn fördert Burnout
Steigerungen der Arbeitsproduktivität sind in aller Regel nur mit höherem Kapitaleinsatz möglich, was in erster Linie vermehrten Einsatz fossiler Energieträger erfordert. Dies geht mit Stress am Arbeitsplatz, Arbeitsverdichtung und fließenden Grenzen von Arbeit und Freizeit einher. Wenn zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten noch eine reale Ausweitung der Arbeitszeit hinzukommt, wie wir gegenwärtig erstmals seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachten, dann lässt diese allgemeine Beschleunigung sowohl menschliche als auch natürliche Potentiale schnell an ihre Grenzen stoßen. Aber weder die Natur noch die Menschen haben unerschöpfliche Ressourcen anzubieten. Die Gefahr ist, dass die steigende Erschöpfung der Menschen mit einem Kreativitätsverlust Hand in Hand geht, welcher gerade in Krisenzeiten für nachhaltige Innovationen notwendig wäre. Burn Out ist eines der Phänomene, die damit Hand in Hand gehen.
Eine „entbettete“ Ökonomie ist lebensfeindlich!
Die durch die Globalisierung angetriebene räumliche Expansion der Weltwirtschaft, Weltpolitik und Weltgesellschaft erleichtert es, dass die ganze Welt einer monetären Logik unterworfen wird, räumlich und zeitlich. Schon Marx habe vor der Vernichtung des Raums durch die Zeit gewarnt, denn durch Beschleunigung schrumpfen auch räumliche Distanzen. Ein Zeichen für die Krise des Systems sei, dass die Produktion von Wert und Mehrwert stockt, gleichzeitig aber an der Substanz natürlicher und menschlicher Reserven gezehrt wird.
Die momentane Krisenpolitik und die technisch teuren Antworten auf eine bevorstehende Klimakrise werden zusätzlich eine Spaltung zwischen Arm und Reich, Nord und Süd hervorrufen und die Welt kriegerischer machen, warnt Altvater. Das Zusammentreffen von Einkommensungleichheit, Verschuldung der Staaten und die Folgen des Klimawandels bezeichnet sogar das World Economic Forum in Davos als einen „perfect global storm“ (Global Risk Report 2013).
Das Anthropozän als zunehmend menschenfeindliche Erdepoche
Die Zur-Untertan-Machung der gesamten Welt und der Natur durch den Menschen im fossilen Kapitalismus, betrachten immer mehr Wissenschaftler*innen als so tiefgreifenden Einschnitt in die Erdgeschichte, dass sie mit dem Anthropozän von einer neuen Erdepoche sprechen. Paradox am „Zeitalter der Menschen“ ist allerdings, dass gerade der Mensch unter den Folgen dieser Epoche leiden wird.
Um die dringend nötige Notbremsung einzuleiten, plädiert Altvater für eine integrierte Sichtweise und die Zusammenarbeit von Sozial- und Naturwissenschaften. Da Gesellschaft und Natur mittlerweile ein physisches System sind, müssen sie auch gemeinsam betrachtet und die Irreversibilität von Stoff- und Energietransformationen mitgedacht werden. Deshalb schlägt Altvater die Erweiterung des Marx’schen Ansatzes vor, um auf die Brenzligkeit unserer Situation hinzuweisen und neue Wege für Wirtschaft und Gesellschaft ausfindig zu machen. Die zunehmende Irritation von jahrtausendealten Bio- und Georhythmen durch Menschenhand muss aufgehalten werden, damit wir wieder zu einem gesunderen Lebensrhythmus zurückfinden können!
Die entscheidende Frage sei, ob die bevorstehenden politischen Kämpfe, die ohne Zweifel schon in den Startlöchern stehen (siehe Griechenland, Spanien, Brasilien, Türkei, Ägypten etc.), im Stande sein werden, radikale strukturelle Veränderungen zu bewirken oder gar eine dringend nötige Revolution einleiten.
Elmar Altvater ist emeritierter Professor für internationale politische Ökonomie an der Freien Universität Berlin, Mitglied des wissenschaftlichen Beirates von Attac Deutschland und war bis 2007 Redaktionsmitglied der Zeitschrift Prokla. 2012 war er Gast bei der Grünen Sommerakademie in Goldegg/Salzburg.
Julia Seewald hat Politikwissenschaften studiert und ist Vorstandsmitglied der GBW Wien.