Beschleunigung und Entfremdung.
Karina Böhm
Teil 1
„Die vielleicht dringlichste und erstaunlichste Facette der sozialen Beschleunigung ist die spektakuläre und endemische ‚Zeitknappheit’ moderner (westlicher) Gesellschaften. In der Moderne haben soziale Akteure zunehmend das Gefühl, dass ihnen die Zeit davonläuft, dass sie nicht genug Zeit haben. Zeit scheint als Ressource wahrgenommen zu werden, die wie Öl konsumiert wird und die daher immer knapper und teurer wird.“ schreibt Rosa in seinem Buch „Beschleunigung und Entfremdung“, erschienen 2013.
Damit wird klar, das Vorlesungsthema betrifft, um nicht zu sagen, plagt jeden von uns. Kein Wunder also, dass der Saal mit mehreren hundert Interessierten gefüllt war, als Ehalt den Vortragenden aufs Podium bittet. Es folgen 30 Minuten Informationsstakkato eines (vom Zeitdruck?) getriebenen Rosa, die rasend schnell vergehen. Weil´s spannend war.
Seit wann rasen wir?
„Die Zeitverhältnisse sind in der Moderne durcheinander geraten“, beginnt Rosa. Seit dem 18. Jahrhundert hätten die Menschen das Gefühl, die Zeit vergehe immer schneller, jage förmlich dahin, „ist aus den Fugen“, um es mit Shakespeares Hamlet zu sagen. Gleichzeitig mit dem Zeitdruck nimmt die Zeitknappheit zu. Warum ist das so?
Ursachen und Dimensionen von Beschleunigung.
Seit dem 18. Jahrhundert gab es viele bedeutende technische Entwicklungen mit dem Ziel, den Menschen das Leben zu erleichtern, erklärt Rosa. „Im Transport sind wir vom Zug übers Auto zum Flugzeug gekommen.“ Kommunikationskanäle haben sich vervielfacht von Festnetztelefon, Radio, Fernsehen, Zeitungen zum Smartphone mit E-Mail und Internet hin zu online Medien. Die Produktion von Gütern und Dienstleistungen bewerkstelligen wir immer schneller. „Die Technik“, sagt Rosa, „ist die Antwort aufs Zeitsparen, nicht die Ursache.“ Die Erfindung der Uhr sei das Übel, sagt der Professor, und schaut auf die Uhr. Er liegt gut in der Zeit.
Updates und sozialer Wandel.
Um auf dem Laufenden zu bleiben, müssen wir uns – selbstverständlich – ständig weiterbilden und updaten in immer mehr Bereichen, vor allem im Beruf aber auch in der Freizeit. Um den Status quo zu halten, um der Angst vor dem Zurückfallen zu entkommen, steigern und verdichten wir unsere „Handlungs- und Erlebnisepisoden“, was das Lebenstempo erhöht: „Wir müssen immer schneller laufen, um auf dem Laufenden zu bleiben.“ Die Veränderungsgeschwindigkeiten beschleunigen sich. „Alle paar Tage ist ein neues Computer-Update notwendig, damit wir noch mit dabei sind.“
Auch der soziale Wandel spielt eine beschleunigende Rolle. Heute leben und arbeiten wir in Wien, morgen in Brüssel, aufgewachsen sind wir in einem deutschen Dorf. Unsere Partnerschaften und Beziehungen wechseln häufiger. Jede Modewelle machen wir mit. Diagnose: „Wir ändern immer schneller unsere materiellen, sozialen und geistigen Verhältnisse.“
Gegenwartsdehnung statt -schrumpfung erreichen wir folglich, indem wir zum Beispiel jahrelang dasselbe Sakko tragen, auf Orts- und Partnerwechsel verzichten, ein Leben lang im selben Ehrenamt bleiben, den Arbeitsplatz nicht wechseln, so der Forscher.
Verzögerung – was ist das?
Entschleunigung bedeutet, „die Zeit scheint langsamer zu vergehen und ist im Überfluss vorhanden“. Unser Körper und Biorhythmus setzt uns natürliche Geschwindigkeitsgrenzen – welch ein „Ärgernis“. Wenn uns Geist oder Körper zu langsam sind, behelfen wir uns mit Kaffee, Drogen und Psychopharmaka, wie Ritalin oder Prosac. Rosa unterscheidet dysfunktionale, funktionale und oppositionelle Verzögerung: „Dysfunktional wären zum Beispiel ein Verkehrsstau, ein politischer Reformstau oder ein Burnout, während eine funktionale Verzögerung den Zweck hat, nach der Verzögerung wieder schneller zu sein, zum Beispiel drei Wochen Klosteraufenthalt, Moratorien oder eine Auszeit, die ‚man sich leistet’.“ Die oppositionelle Verzögerung indes ist eine Ideologie, eine Verweigerungshaltung, zum Beispiel das Ablehnen technischer Neuerungen, oder der 1990 in Klagenfurt gegründete „Verein zur Verzögerung der Zeit“.
Slow, Fast und Luxus Zeit.
„Zu Fuß statt mit dem Auto, Handarbeit statt Maschine, Reparieren statt Wegwerfen, Kochen statt Fast Food, all das fällt in den Bereich Verzögerung“, sagt Rosa. „Je langsamer die Fortbewegung, umso langsamer das Zeitempfinden, das Zeitgefühl.“
Zeit ist heute Luxus. Das hat sich auch in der Sprache niedergeschlagen. „Man ‚leistet sich’ eine Auszeit oder weite Strecken zu Fuß zu gehen“. Wer kein Fast und Convenience Food mag, ‚leistet sich’ das Kochen. Quality time verbringt man mit seinen Liebsten und der Powernap impliziert, dass zum lange Schlafen die Zeit fehlt. Vieles von dem, was wir uns heute gerne wieder leisten würden, galt lange Zeit als rückständig. Daher stellt sich die Frage, wie realistisch sind Entschleunigungsmodelle für eine Gesellschaft?
Ist Entschleunigung möglich und wünschenswert?
„Moderne Gesellschaften sind so angelegt, dass sie sich nur erhalten können, wenn sie zumindest ihren Status quo halten und nicht zurückfallen“, sagt Rosa. Wirtschaftswachstum heißt immer auch Beschleunigung. „Wir müssen den Wachstumsmotor in Gang bringen“, sagen die Politiker. „Aber wohin wachsen?“, fragt Rosa. 43 Millionen Menschen hungern laut Rotem Kreuz in Europa wieder, Arbeitslosenzahlen und Firmenpleiten steigen überproportional, wenn wir nicht (ausreichend) wachsen. „Wir müssen immer mehr beschleunigen, um zumindest den Status quo zu halten.“
Die Eskalationslogik der modernen Gesellschaft bedeutet Wachstums-, Beschleunigungs- und Innovationsdruck. Sie endet im „rasenden Stillstand“ und in Zusammenbruchszenarien – und nicht im guten Leben. „Daher ist Verzögerung wünschenswert.“
Beschleunigungsgrenze rasender Stillstand.
„Hypothetische Beschleunigungsgrenze ist im Zustand des rasenden Stillstands“, erklärt Rosa. „Praktisch bedeutet das: körperlicher und seelischer Zusammenbruch, Burnout, Depression, ökologischer Zusammenbruch, Finanzzusammenbruch.“ Die menschlichen Grenzen lassen sich mit Psychopharmaka überwinden, oder zumindest ausdehnen. „Aber ist das das gute Leben, das wir uns wünschen?“
Angst, nicht Gier.
Ab dem 18. Jahrhundert hatten Wachsen, Beschleunigen, Innovieren das Ziel, den Menschen das Leben zu erleichtern. Doch heute wissen wir, dass Wachstum keinem gesellschaftlichen Ziel mehr dient. „Wir laufen vor einem sozialen Abgrund weg“, sagt Rosa. „Vor Hunger, Arbeitslosigkeit – vor Griechenland. Der Motor der Beschleunigung ist Angst, nicht Gier.“ Wünschenswert wäre daher eine Gesellschaft, die ein sinnvolles Ziel erreichen kann, und nicht Angst um den Status quo hat. Eine Postwachstumsgesellschaft, die nicht permanent wachsen, nicht permanent beschleunigen muss.
Reformen für eine Postwachstumsgesellschaft.
„Zuerst brauchen wir eine ökonomische Reform, eine neue Wirtschaftsdemokratie“, sagt Rosa. Dann eine sozialpolitische Selbststeuerung. Zum Beispiel könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen den Menschen die Angst vor dem sozialen Absturz, dem „sozialen Tod“, nehmen. Eine neue kulturelle Reflexion darüber, was ein gutes Leben für uns ist, müsste stattfinden, im Kollektiv: „Wir dürfen diese Frage nicht privatisieren“.
Resonanzerfahrungen zum Glück.
„Das Leben wird nicht besser durch ziellose Wohlstandsmehrung, sondern glücklich machen uns Resonanzerfahrungen“, sagt der Forscher. Das sind Wechselbeziehungen zwischen Menschen, Kunst, Natur. Während einer Resonanzerfahrung fühlt sich die Zeit richtig an, nicht zu schnell, nicht zu langsam. Wir sind zufrieden, fühlen uns wohl, sind eins mit uns, gehen in einer Tätigkeit auf.
Karina Böhm
Damit sind Rosas 30 Minuten um, und der Moderator eröffnet die Podiumsdiskussion:
Teil 2
Übel Wettbewerbsprinzip und Wachstumszwang.
„Was ist das Bösartige der Zeit und warum führen wir kein gutes Leben?“, fragt Ehalt. „Im äußeren Kontext geht es uns gut, sicher besser als zu Zeiten der Pest, aber innen nicht. Burnout, Depression und ökologische Katastrophen sind nicht die Realisierung des guten Lebens“, sagt Rosa. Ina Zwerger meint: „Die Triebfeder im Kapitalismus ist der Markt. Wir müssen Gegenstrategien zum Wettbewerbsdruck finden.“ Wird das Leben dadurch besser, dass wir ständig Autos, Computer, Kleidung produzieren und sie kurz darauf wieder wegwerfen?, stellt Rosa in den Raum. Profitideen und Innovationen rein zum Profitzweck seien erst in der Moderne entstanden. „Das Wettbewerbsprinzip ist das Mantra der Politik und der Zeitfresser und Beschleuniger schlechthin.“
Konkurrenz und Entfremdung.
Wenn Altersheime, Pflegeeinrichtungen, Spitäler und Schulen konkurrieren, bleibt kaum mehr Zeit, sich den Menschen dort mit Zuwendung zu widmen. Die Arbeit wird als entfremdet wahrgenommen. Alle Beteiligten fühlen sich schlecht und verlieren dabei. Entschleunigende, erfüllende Resonanzerfahrungen sind an solchen Arbeitsplätzen nicht mehr möglich. Daher fordert Rosa: „Wir brauchen weniger Konkurrenz und Wettbewerb, nicht mehr.“
Solidarität und Vereinzelung.
Das Wettbewerbsdogma stellt auch die Solidarität in Frage, so der Professor. Im Wettbewerb muss ständig einer vorziehen, um einen Vorteil zu lukrieren, die anderen müssen nachziehen, sonst bleiben sie übrig. Daher sei Wettbewerb unsolidarisch. Auch führe er zu Vereinzelung: „Die Welt wird als hart und feindlich wahrgenommen.“ Als einzig sicherer Bereich gilt vielen oft nur mehr die Familie.
Zeitfresser, mehr Arenen und Schuldgefühle.
Ehalt fragt: „Was sind heute die größten Zeitfresser?“ Rosa: „Wir vermehren dauernd.“ Das Internet ist zusätzlich zu Radio, Fernsehen und Printmedien gekommen. Die Zahl der Arenen vermehrt sich ständig. „Wenn wir nicht überall mitkommen und abends unsere To-do-Liste vollständig abgearbeitet haben, bekommen wir auch noch Schuldgefühle.“ Dann heißt es lapidar, „du musst eben Prioritäten setzen“, doch das sei eine nicht erfüllbare Forderung.
Zwerger ergänzt, die heute verlangte ständige Erreichbarkeit macht nicht kreativ, sondern befördert Burnout. Bezüglich E-Mails meint die Journalistin: „Früher ist man ja auch nicht alle zehn Minuten zum Postkasten gelaufen.“ Manche Firmen hätten das Problem aber bereits erkannt und fahren nachts den Firmenserver runter.
Totalitäre Logik.
Rosa kritisiert die „totalitäre Logik“, die hinter „Landnahme, Aktivierung, Beschleunigung“ steckt: „Pflege, Liebe, Krankheit, Bildung sind nur einige betroffene Bereiche. Auch Fernfahrer und Supermarktkassiererinnen arbeiten unter Beschleunigungsdruck, der von außen kommt.“ Untere soziale Schichten und Alleinerziehende treffe das Problem besonders hart, aber auch Familien, in denen beide Elternteile Vollzeit arbeiten.
Arbeitsverteilung und Grundeinkommen.
Gefragt nach Arbeitszeitverkürzung antwortet Zwerger: „Arbeit ist heute ungleich verteilt. Während die einen zu viel Arbeit haben, gibt es auf der anderen Seite immer mehr Arbeitslose.“ Doch auch sie seien häufig von Burnout und Depressionen betroffen: „Weil sie Ausgrenzung und Entwertung erfahren, weil sie sich wie Bittsteller fühlen, die um Almosen betteln“, sagt Rosa. „Die Angst vor dem sozialen Tod könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen nehmen.“ Auch würde dadurch Arbeit gerechter verteilt und die Menschen nicht mehr erpressbar, jeden Job zu schlechten Bedingungen annehmen zu müssen.
Vom Orgeln und Ernten.
„Wie entschleunigen Sie beide persönlich“, möchte Ehalt zum Abschluss wissen. „Ich pflanze und ernte Kartoffeln mit Freunden“, sagt Zwerger. Auch gehe sie gerne in die Natur. Rosa verrät: „Meine Resonanzoasen sind Orgelspielen und Sternenhimmelbeobachten im Schwarzwald.“ Und jeden Sommer reserviert er drei handy- und e-mailfreie Wochen für Kurse mit Schülern.
Die Vorlesung hat Lust auf Entschleunigung gemacht. Die Autorin stieg am nächsten Tag auf die Schneealpe und am übernächsten auf die Rax. Zwei Berge, zwei Resonanzoasen.
Die Autorin, Karina Böhm, hat Sozial- und Wirtschaftswissenschaften studiert und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.
Links.
Buch: Beschleunigung und Entfremdung
Hartmut Rosa
Wiener Vorlesungen
Europäische Bürgerinitiative zum Bedingungslosen Grundeinkommen
Verein zur Verzögerung der Zeit
Veranstaltung in Kooperation mit dem Institut für Philosophie, Uni Wien, und dem Institut für Wissenschaft und Kunst