Blickpunkt Boko Haram.
GBW
Als Anfang des Jahres ein großer Teil Europas auf die Terroranschläge in Frankreich blickte, ging in einem anderen Teil der Welt etwas nicht minder Katastrophales vor sich. Dieses etwas wird unter dem Stichwort Boko Haram behandelt – oder nicht behandelt: Kaum jemand nahm mehr als oberflächlich Notiz von diesen Ereignissen. Sie schienen in den Untiefen des Mediensumpfes zu versickern. Die Veranstaltung sollte als Antwort darauf einen Einblick in die komplexen Strukturen bieten, und gleichzeitig zu einem kritischen Umgang mit Medien auffordern.
Nigeria: home of peace.
Den Beginn macht Georg Ziegelmeier von der Universität Wien. Der Sprachwissenschaftler hielt sich im Zeitraum 2002 bis 2010 für verschiedene Projekte häufig im Nordosten Nigerias auf. Vor allem beschäftigte er sich mit dem sprachlichen Wandel in der Region, wodurch er ausgeprägten Kontakt mit der Bevölkerung vor Ort pflegte. Anekdoten und Bilder schaffen ein außergewöhnliches Bild dieser Region, das sich stark von der einseitigen Krisenberichterstattung abhebt. Der Bundesstaat Borno war noch vor wenigen Jahren bekannt für seine friedliche und gastfreundliche Atmosphäre. „Home of peace“ steht auf einem abfotografierten Autokennzeichen. Seit 2009 gelte das wohl kaum mehr, bedauert Ziegelmeier, Borno leide stark unter Rebellengruppen. Auch der Islam sei in der Region weitgehend sehr moderat. Ein Fakt, den die Radikalität kämpfender Jihadisten nun überschattet.
Katastrophale Medienberichterstattung.
Roman Loimeier von der Universität Göttingen beschäftigt sich mit Historischer Ethnologie und wählt einen anderen Zugang: Das Hauptaugenmerk seines Vortrags liegt darauf, die sozialen Grundlagen des Jihads darzustellen. Ein Aspekt, der in der Öffentlichkeit kaum ankommt. „Die Medienberichterstattung über diese Konflikte ist katastrophal“, stellt Loimeier fest und führt die wichtigsten Geschehnisse und Zusammenhänge in diesem Konflikt aus. Auch werde weitgehend übersehen, betont er, dass die meisten Opfer Muslime sind. Eine Ursache dafür liegt in der Bereitschaft der radikalen Gruppen zum Takf?r, also andere Muslime zu Ungläubigen zu erklären und zu bekämpfen. Die Radikalen interpretieren den Jihad militant und üben eine große Anziehungskraft auf junge Muslime aus, welche vor allem mit der ökonomischen Lage unzufrieden sind.
Zuerst müsse man über die soziale Situation als Grundlage des Konflikts sprechen, meint Loimeier, denn erst so könnten Medien auch verständlich über diese radikalen Gruppierungen berichten.
Bashir Alhaji-Shehu von der Universität Wien schließt die Vortragsreihe mit der Beantwortung folgender Fragen: Wie wirkt sich religiöse Gewalt auf Gesellschaft aus? Was sagen Ursachen- und Fallstudien? Wie sind die Strategien der Regierung beschaffen? Welche Lösungswege aus dem Konflikt gibt es?
Auch hier sind die Ergebnisse ähnlich: Nur wenn soziale Probleme gelöst werden, ist es möglich, den Zulauf zu radikalen Strömungen zu unterbinden. Die Verringerung von sozialer Ungleichheit ist ein wichtiger Teilaspekt davon.
Workshop: Medienkritik.
„Ich stamme ursprünglich aus einem Land, dessen Zivilisationsgrad vor noch nicht allzu langer Zeit von vielen Staaten der westlichen Welt belächelt und interessiert, aber von oben herab zur Kenntnis genommen wurde. Kein Wunder: Ganz in der Nähe gab es beispielsweise noch Stämme, die die Schädel ihrer verstorbenen Kinder bemalten (!) und sammelten.
Meine Großmutter, eine Eingeborene, hatte sechzehn Geschwister. Das Wasser kam selbstverständlich aus dem Dorfbrunnen statt wie heute aus dem Wasserhahn […]“i
Von welchem Land wird hier gesprochen?
Mit diesem Textbeispiel von Noah Sow beginnt der Workshop und führt die Zuhörenden gleich zu einem Aha-Effekt: Es handelt sich (natürlich?) um Deutschland.
Spätestens hier wird den meisten klar, wie absurd oftmals über die Länder des globalen Südens gesprochen wird. Diese Art der Sprachanwendung hat ihre Wurzeln im Kolonialismus und lebt heute in einem subtilen Rassismus weiter, den die Medien immer weiter transportieren. Dies nicht grundlos: Ein negatives Afrikabild legitimiert weiterhin Eingriffe des globalen Nordens in die wirtschaftlichen und politischen Strukturen unzähliger Länder.
Sprache schafft bekanntlich Wirklichkeit, es ist also wichtig sich damit auseinanderzusetzen. Was bedeutet primitiv, wie lässt sich das Wort Eingeborene verstehen und ist es problematisch von Ethnien zu sprechen? Kleingruppen diskutieren diese Fragen heiß. Ein Fazit: Ein großer Teil des Wortschatzes, den wir zur Beschreibung afrikanischer Länder verwenden, ist sehr problematisch. Oft ist es möglich ihn ersatzlos zu streichen, manchmal wiederum lässt sich auf bessere Selbstbezeichnungen von Gemeinschaften zurückgreifen. Reflektieren und handeln!
Eine gemeinsame Medienanalyse verschiedener Zeitungen bestätigt die Vermutung, dass das Themenfeld Boko Haram sehr zweifelhaft behandelt wird – und das von denselben Zeitungen, die einem Großteil der Bevölkerung die Meinung (mit)bilden. Doch gibt es viele Abstufungen: Manche Zeitungen bewältigen ihre Aufgabe besser als andere. Von diesen Vorbildern kann man lernen. Sich einen Themenaspekt im Konflikt herauszugreifen und diesen im Detail zu beleuchten, ist sicher oft sinnvoller, als eine oberflächliche Gesamtdarstellung. Außerdem gibt es viele Expert*innen vor Ort, die die Lage oft besser einschätzen können als Interviewpartner*innen, die nur eine theoretische Außenperspektive innehaben.
Nach kulinarischen Köstlichkeiten aus verschiedenen afrikanischen Ländern folgt die Filmvorführung des malinesischen Dramas Timbuktu als krönender Abschluss, abgerundet von einem gemütlichen gemeinsamen Tagesausklang der Teilnehmenden.
Der Autor Tobias Schlagitweit ist Mitglied der Redaktion der GBW Wien.
i ) Noah Sow: Meine eigene Herkunft (27.04.15)