Buen Vivir und Musik - Oder umgekehrt.

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Das Veranstaltungskonzept der multikulturellen Band „Grupo Sal“ ist zweifelsohne sehr ansprechend: eine Symbiose aus Inhaltlichem und Musik. Unter anderem auf Einladung der Grünen Bildungswerkstatt Wien gastierte die Gruppe am 16. Mai in Begleitung von Alberto Acosta im C3 - Centrum für Internationale Entwicklung. Als Präsident der verfassungsgebenden Versammlung 2007/08 war Acosta maßgeblich daran beteiligt, Aspekte des „Buen Vivir“ in der ecuadorianischen Verfassung zu verankern. Ob nun im C3 ein Vortrag oder ein Konzert besucht wurde, musste und durfte am Ende jede*r selbst entscheiden.
Seit Jahrhunderten ein „Gutes Leben“.
Immer wenn die Musik verstummt, tritt Alberto Acosta an sein kleines Pult. In hervorragendem Deutsch gibt der in Europa vielleicht bekannteste Verfechter des „Buen Vivir“-Ansatzes einen Einblick in sein Denken.
Die Idee des „Guten Lebens“ sei weder neu, noch speziell an Lateinamerika gebunden. Wer suche, finde zu fast allen Zeiten und an fast allen Orten der Erde ähnliche Ansätze. Interessant sei aber vor allem, dass diese Ideen schon Jahrhunderte alt seien. Zu Zeiten des Kolonialismus und Imperialismus habe sich nur niemand dafür interessiert – schlimmer noch, indigene Kulturen wurden und werden noch immer marginalisiert und aktiv bekämpft. Es darf also gefragt werden: Warum ist das „Buen Vivir“ aus dem globalen Süden plötzlich so gefragt?
Der Kapitalismus begeht Selbstmord.
Die Antwort des ehemaligen ecuadorianischen Energie- und Bergbauministers Acosta klingt einleuchtend: „Irgendetwas funktioniert nicht in der Welt.“ Die aufgezählten Symptome sind bekannt: Umweltzerstörung, Armut und Hunger, ungerechte Verteilung von Vermögen und Lebenschancen. Schon wenige Beispiele machen seine Diagnose unanfechtbar. 2,6 Millionen Menschen sterben jährlich aufgrund von Umweltverschmutzung. Obwohl wir Lebensmittel für 11 Milliarden Menschen produzieren, leidet eine Milliarde permanent an Hunger. Allein drei Individuen verfügen über ein Vermögen, so groß wie die jährliche Wirtschaftsleistung der 48 ärmsten Länder zusammen.
Es gäbe noch viele weitere Beispiele, doch die Stoßrichtung Acostas ist eindeutig: trotz allen technologischen und zivilisatorischen Fortschritten, die unser westlich-kapitalistisches System gebracht haben mag, ist es nicht in der Lage, die elementarsten Probleme der Mehrheit aller Menschen zu lösen. Vor Jahrhunderten sei der Kapitalismus ein revolutionäres Projekt gewesen. Heute sei er reaktionär und im Begriff, Selbstmord zu begehen, sagt der studierte Ökonom.

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Buen Vivir: K/eine Alternative.
Der Fortschrittsglaube der europäischen Moderne spiegle sich auch im Entwicklungsparadigma des 20. Jahrhunderts wider. Der Begriff „Entwicklungsländer“ etablierte sich und es entstanden Entwicklungsbanken, -institutionen, -theorien, -expert*innen, -studiengänge und -bibliotheken, erlaubt sich Acosta augenzwinkernd einen Seitenhieb auf seine Gastgeber*innen des C3. Im Laufe der Zeit wurden dem Kind andere Namen gegeben, wie „Soziale Entwicklung“ oder „Nachhaltige Entwicklung“. Das Konzept an sich sei jedoch selten in Frage gestellt worden. Genau darum gehe es aber. „Buen Vivir ist keine Entwicklungsalternative, sondern eine Alternative zu Entwicklung“, wiederholt Acosta mehrmals.
Ein sehr zentrales Element dafür sei „Harmonie“. Harmonie mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen, mit und zwischen Gemeinschaften und der Natur. Wachstumszwang und Wettbewerb in allen Lebenslagen seien deshalb zu überwinden. „Wir müssen aufhören, uns als Robinson Crusoes zu sehen!“ Ein wichtiges Element des „Guten Lebens“ sei es, Natur und Umwelt dem Marktmechanismus zu entziehen. „Jesus hat die Händler aus dem Tempel vertrieben. Das ist unsere Aufgabe“, sagt Acosta und kann sich zum Beispiel die Etablierung einer „Allgemeinen Erklärung der Naturrechte“ (analog zu den Menschenrechten) vorstellen. Auch weitere Tugenden dieser Alternative zum Fortschrittsglauben klingen bekannt: Gegenseitigkeit, Gleichberechtigung, Solidarität, Suffizienz, Bescheidenheit. „Es geht nicht nur darum, den Kuchen anders zu verteilen, sondern darum, ihn anders zu machen.“
Gestern und morgen im Heute.
Es könnte einen das Gefühl beschleichen, dass die Idee des „Buen Vivir“ alles und nichts bedeutet. Acosta entgegnet dem, dass es sich um kein abgeschlossenes, allgemeingültiges Konzept handle. Er stelle sich eine Kiste mit allen Theorien und Ansätzen zum Thema „Buen Vivir“ vor – diese Kiste sei weder voll noch leer. Vieles gibt es schon, vieles darf und soll noch hinzugefügt werden. Ein „globaler Dialog“ und ein „Trial-and-Error“-Prozess seien dafür das Um und Auf. Es gehe schließlich nicht darum, in eine idealisierte Vergangenheit zurück zu reisen oder ein fertiges Konzept aus Lateinamerika in alle Welt zu exportieren. Vielmehr ist ein tiefgreifendes Umdenken, ein Andersdenken und Neudenken gefragt. Die Prinzipien des „Buen Vivir“ hätten in jeder Gesellschaft ihren Platz und existieren bereits heute in einer bunten Vielfalt von Projekten. Als Beispiel für den hiesigen Kontext nennt er etwa Christian Felbers Ansatz der „Gemeinwohlökonomie“. Auch auf Karl Georg Zinns Arbeit zum Thema Arbeitszeitverkürzung verweist Acosta ausdrücklich (siehe Link). Die konkrete Umsetzung müsse natürlich immer an das Umfeld angepasst sein und könne nicht für jede Gesellschaft und Kultur gleich aussehen.
Am Ende eines in vielerlei Hinsicht inspirierenden Abends verbietet sich Acosta selbst das Wort, weil er nicht länger auf Musik und ein Glas Wein verzichten möchte. Auch das gehöre zum guten Leben. Selbst singen darf er leider nicht, das habe ihm seine Tochter verboten. Seine Botschaft klang mit der ta(k)tkräftigen Unterstützung von Grupo Sal trotzdem noch lange nach: Wir müssen nicht auf das Ende des Kapitalismus warten, um den Weg in Richtung gutes Leben einzuschlagen.
Der Autor, Michael Schwendinger, hat Internationale Entwicklung und Volkswirtschaft studiert und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.
Link.
GBW-Artikel zu Karl Georg Zinn
Videoaufzeichnung 1/3 (53 min.)
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