Chiles Studierendenbewegung.

Rodrigo Balladares Munoz
Am 21. Mai stellte Chiles Präsidentin Michelle Bachelet das Regierungsprogramm des Mitte-Links-Bündnisses „Nueva Mayoria“ für die kommenden vier Jahre vor. Den Schwerpunkt bildet eine umfassende Bildungsreform. Diese soll staatliche Zuschüsse für Bildungseinrichtungen mit Gewinnabsicht streichen, neue Strukturen zur Verwaltung öffentlicher Bildungsgelder schaffen und den schrittweisen Gratiszugang zu Universitäten verwirklichen. Kostenlose Bildung beschränkt sich dabei zunächst auf Studierende aus den einkommensschwächsten Schichten. Finanziert werden soll das milliardenschwere Bildungspaket mit einer Steuerreform. Ob die ehrgeizigen Ziele erreicht werden, bleibt abzuwarten. Kritiker*innen geben bereits zu verstehen, dass die Reformansätze zwar positiv sind, aber nicht ausreichen, um den öffentlichen Bildungssektor nachhaltig zu stärken. Umgesetzt wurden bislang – neben einem Gesetzesentwurf für den Bau von zwei staatlichen Universitäten – lediglich Vergünstigungen für das Semesterticket.
Reformimpulse gingen von der Straße aus.
Der deutliche Fokus der Regierung auf den Bereich Bildung ist der Verdienst einer aktiven und gut organisierten Schüler*innen- und Studierendenbewegung. Diese rief zu den größten und massivsten Protestaktionen seit dem Übergang des Landes zur Demokratie 1990 auf. Angeprangert werden insbesondere die hohen Kosten des chilenischen Bildungssystems und die damit verbundene private Verschuldung zahlreicher Familien, sowie die ungleichen Zugangschancen zu Hochschuleinrichtungen. Grundlage des aktuellen Systems ist die Bildungsreform aus dem Jahr 1981. Diese setzte während der Militärdiktatur ein marktbasiertes System in Gang, welches die bis dahin bestehenden acht öffentlichen Universitäten um knapp 300 private Bildungseinrichtungen (Universitäten, technische Berufskollegs- und Ausbildungszentren) erweiterte. Diese standen zu großen Teilen im Wettbewerb zueinander, bei gleichzeitiger Einschränkung staatlicher Aktivitäten. Zur staatlichen Hauptaufgabe zählte es fortan Stipendien und öffentliche Kredite an Studierende zu vergeben. Bildungsfragen wurden hingegen einer unternehmerischen Logik von Gewinnmaximierung und Kostenreduktion unterworfen – zu Lasten der Qualität im Bildungssektor.
Die Studierendenbewegung als sozialer Akteur.
Die Bewegung bemängelt, dass der Übergang zur Demokratie und die nachfolgenden Regierungen es trotz zahlreicher Reformversuche nicht vollbrachten, historisch gewachsene Phänomene sozialer Ungleichheit grundlegend zu verändern. Korruptions- und Bestechungsskandale im Hochschulsektor verstärkten diese Auffassung noch zusätzlich. Die Soziologin Ana Cárdenas veröffentliche Ende 2013 eine Analyse der Ereignisse der vergangenen Jahre. Cárdenas betont die tiefe Unzufriedenheit der Studierenden mit dem staatlichen Modell der Post-Diktatur. Im Interview bezeichnet sie die aktuelle Bewegung als „bedeutenden sozialen Akteur, der mit kollektiven Aktionen nicht nur das Bildungssystem zu verändern sucht, sondern auf eine grundlegende Transformation der gegenwärtigen sozialen Ordnung abzielt.“ Fehlende Möglichkeiten zur demokratischen Partizipation, Konsum auf Basis steigender privater Verschuldung, zentralistische Strukturen und die ungleichen Lebensbedingungen in dem jungen OECD-Mitgliedsstaat verstärken seit 1990 die politische Verdrossenheit und das Misstrauen gegenüber politischen Institutionen.
Kostenlose und öffentliche Bildung jenseits privater Gewinnabsichten.
Die angesammelte Frustration der jungen Chilen*innen äußerte sich zunächst 2006 in den Protestaktionen der Oberstufenschüler*innen, den sogenannten „Pingüinos“. Sie gipfelte in landesweiten Massenprotesten und Besetzungen im Jahr 2011. Mit den Slogans „Nein, zur Gewinnabsicht im Bildungssektor!“ und „Für eine kostenlose und öffentliche Bildung mit Qualitätsanspruch“ brachte die Studierendenbewegung teilweise 400.000 Menschen auf die Straßen. Gewerkschaften solidarisierten sich mit den Studierenden und verliehen mit Generalstreiks ihrem Unmut über die gesellschaftlichen Verhältnisse Ausdruck. Als weiteren Grund für das Ausmaß der Proteste beschreibt im Interview Nicolás Romero vom Forschungszentrum der Studierendenvertretung der Universität Chile die „historisch erstmalige und erfolgreiche Kooperation zwischen den tendenziell gespaltenen Studierendensektoren staatlicher und privater Universitäten“. Letztere schlossen sich zunehmend den Forderungen der historisch bedeutsamen Vereinigung staatlicher Studierender an und bildeten eigene Vertretungen aus.
Vertreter*innen der Studierenden halten Einzug ins Parlament.
Auftrieb erhielt die Bewegung durch das Engagement und die mediale Präsenz der Vertreter*innen der Studierenden. Manchen davon gelang 2013 der Einzug ins Parlament. Zentrale Figur der Proteste war allen voran Camila Vallejo. Sie wurde 2011 zur zweiten weiblichen Präsidentin der Studierenden der Universität Chile (Fech) gewählt und sitzt nun für die Kommunistische Partei im Parlament. Der Ex-Studierendenvertreter Giorgio Jackson schloss sich nach den Wahlen mit einer neu gegründeten Partei ebenfalls dem neuen Regierungsbündnis an. Für eine Politik jenseits bestehender politischer Machtblöcke steht Gabriel Boric. Dieser trat 2012 die Nachfolge von Camilla Vallejo als Präsident der Fech und Vertreter der autonomen Linken an. Er zog als unabhängiger Kandidat für die südliche Region Magallanes ins neue Parlament ein. Im Interview betont Boric: „Ich begreife meine unabhängige Position als Plattform, um die sozialen Kämpfe auf der Straße zu bestärken und um eine institutionelle Dimension zu erweitern.“ Das Thema Bildung begreift er lediglich als ein Symptom unter vielen eines mangelhaften politischen Systems. Er betont, dass weitere Sektoren wie etwa Gesundheit in den Fokus rücken müssten. Dafür benötige es mehr dezentrale Partizipation, um die Gesellschaft zu politisieren.
Inwiefern Chiles Studierende die angestoßenen Reformen vorantreiben können, wird sich zeigen. Fest steht jedoch eines: Die erstarkte Bewegung hat einen festen Platz im politischen Szenario ergattert und ist zumindest aus den Verhandlungen in Sachen Bildung nicht mehr wegzudenken.
Die Autorin Meike Siegner beschäftigte sich während eines Praktikums im chilenischen Auslandsbüro der Heinrich Böll Stiftung mit der dortigen Studierendenbewegung und ist Mitglied des GBW Redaktionsteams.
Literatur und Links.
Nationale Vereinigung chilenischer Studierender. Mit aktuellen Publikationen und Dokumentationen
Cárdenas Tomažiž, Ana; Navarro Oyarzún (2013): El Movimiento Estudiantil en Chile. Redefiniendo Límites, Acortando Distancias. Herausgegeben von der Heinrich Böll Stiftung Cono Sur und dem Instituto de Investigación en Ciencias Sociales (icso), Santiago de Chile: RIL editores.