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Das Prekariat: keine Sicherheit, keine Leistungen, keine Zukunft

Über einen Abend mit Klaudia Paiha und Guy Standing sowie ein lebhaftes Publikum

Von Edith Vanghelof1

 

 

Am 15. September 2016 fand eine Kooperationsveranstaltung der GBW Wien mit der AUGE/UG – der den Grünen nahestehenden Gewerkschaftsorganisation – zum Thema „Das neue Prekariat“ statt. Die Rednerin der AUGE war Klaudia Paiha. Ihr Podiumspartner, der britische Ökonom Guy Standing löste mit seinem Beitrag dann eine lebhafte Diskussion über die möglichen Wege aus eher düsteren Perspektiven aus. 


Düstere Aussichten – das Prekariat

Ungewohnt, einem Redner zuzuhören, der Klartext spricht, ganz anders als die faktenverliebten ExpertInnen normalerweise. Guy Standing hielt ein mitreißendes Referat vor seinem interessierten Publikum. Thema: Das Prekariat einer immer größer werdenden Gruppe von Menschen. Die Angst eines Lebens ohne regelmäßiges Einkommen, Arbeiten ohne Ende und ohne Freizeit (und schon gar nicht bezahlte Freizeit), ein Leben, in dem es keine Zeit für Krankenstände gibt; eine Welt in der Krankenversicherung und Pension nicht vom Solidarprinzip getragen werden, sondern von individuellen privaten Bemühungen und damit eine Aussicht auf kleine oder keine Pensionen, keine Versicherung, wenig Geld für ein Zuhause, das auf der falschen Straßenseite liegt und nur den Blick auf die Luxuswohntürme ermöglicht – wenn überhaupt. Kurz: der Ausschluss aus dem sozialen und kulturellen Leben. Wohlgemerkt: Die Rede ist hier nicht von den Ländern des Südens, sondern von Österreich und den realistischen Aussichten für die nächste Generation. Zumindest derer, die nichts erben werden oder nicht zu den obersten „1% der Besitzenden“ gehören. 

Optimismus – Arbeit neu definieren

Doch Guy Standing verbreitet auch Optimismus; er sieht in der Masse eine neue Klasse entstehen, die er das Prekariat nennt. Er ist Ökonom. Seine Analysen basieren auf Fakten und auf seiner Erfahrung. Wir stecken mitten im Prozess einer globalen Transformation, die, als Resultat der neoliberalen Wirtschaftspolitik, Globalisierung und technologischen Revolution, zum Zusammenbruch der Einkommensverteilung-Strukturen des 20. Jahrhunderts geführt hat.

Standings erste Forderung ist, dass wir als Gesellschaft die Arbeit neu definieren müssen. Wir müssen die Zeiten der alten sozialdemokratischen Forderungen hinter uns lassen. Deren Analysen passen nicht zur Gegenwart.  Wir müssen uns von den traditionellen Kategorien der Klassen verabschieden, damit wir Neues überlegen können. Das Prekariat hat keine Identität, die auf Zugehörigkeit zu einem Beruf oder einer Klasse beruht. Anders als das Proletariat, lebt das Prekariat in unsicheren Arbeitsverhältnissen, mal hier, mal dort ein Job; und oft mit lückenhaften Arbeitsverträgen. Oder aber die Menschen sind gezwungen, indirekte Arbeitsverhältnisse einzugehen, die sie nur über Agenturen und Vermittler bekommen.  Bei der Prekarisierung verlieren Menschen die Kontrolle über ihre Zeit, über die Möglichkeit ihre Fähigkeiten zu entwickeln und nutzen. 

Sicherheit für alle - das bedingungslose Grundeinkommen

Seine Forderung ist allen Menschen – nicht nur diejenigen in geregelten Arbeitsverhältnissen – ihre zivilen, kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Rechte zu sichern. Er sieht im Prekariat eine explosive, vielleicht revolutionäre Kraft. Diese These hat Standing auch eine Einladung zur Bilderberg-Konferenz gebracht – noch exklusiver als Davos – wo er Wirtschaftskapitänen und Staatsoberhäuptern seine Thesen zum Prekariat darlegen konnte. Denn auch die Herren und Damen aus den Chefetagen der  Wirtschaft und der Politik haben Angst. Sagt Standing. Allerdings aus anderen Gründen als das Prekariat. Standings Conclusio: Es braucht ein bedingungsloses Grundeinkommen. 

Die Gewerkschaft – Eine bedarfs- und lebenslagenorientierte Grundsicherung

Klaudia Paiha sieht das ein wenig anders. 50% der Menschen arbeiten mittlerweile in sogenannten atypischen Arbeitsverhältnissen. 84% der Teilzeitjobs werden von Frauen übernommen. Paihas Lösungsansatz: die Arbeitszeitverkürzung als Mittel gegen Arbeitslosigkeit und die Zunahme von prekärer Beschäftigung. Die AUGE/UG setzt sich für eine bedarfs- und lebenslagenorientierte Grundsicherung ein – als Ergänzung zu bestehenden Sozialleistungen.

Sie sieht in der Einführung der bedarfsorientierten Grundsicherung einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Wichtig für die Gewerkschafterin ist auch die Forderung die Wirtschaft und Arbeitsbeziehungen zu demokratisieren. Mehr Demokratie am Arbeitsplatz schafft bessere Perspektiven, meint Paiha. Eine Forderung der AUGE ist es, abhängig Beschäftigte in ihren Arbeitsverhältnissen mehr Rechte zu geben. 

Die Diskussion – das Für und Wider

Im Publikum sitzen viele, die sich selbst in prekärer Situation oder atypischen Arbeitsverhältnissen befinden. Doch die angedachten Lösungsansätze spalten die DiskutantInnen in zwei Lager. Es heißt, der gewerkschaftlicher Zugang, kollektive Institutionen zu stärken, funktioniere nicht mehr. Aus diesem Grund sei das Weiterverfolgen von klassischen Strategien nicht zielführend oder gar kontraproduktiv. Es wird das Beispiel der Situation in Frankreich erwähnt mit einer 35 Stunden Woche und sehr starkem Kündigungsschutz, das in der jetzigen Phase des Kapitalismus eher zu mehr Ausgrenzung führe, keine neuen Jobs schaffe und das subjektiven Gefühl der Ausgrenzung fördere – diese Gruppe sei dann anfällig für eine rechtspopulistische und extremistische Politik und stehe oft hinter fragwürdige Forderungen (Mauer gegen Fremde bauen, alle AusländerInnen raus, u.ä.). Guy Standing vertritt die Ansicht, dass die Einführung eines bedingungsloses Grundeinkommens die Menschen weniger negativ radikalisieren würde, dass sie mehr am Gemeinwohl interessiert wären. Die materielle Unabhängigkeit durch ein bedingungsloses Grundeinkommens würde zudem Frauen zugutekommen. Die Gegenposition sagt, dass das Modell der bedarfs- und lebenslagenorientierte Grundsicherung gerechter sei.

Die Diskussion mit ihren kontroversen Zugängen wird uns noch für längere Zeit begleiten. Genauso wie Neoliberalismus und Prekariat.

 

1) Edith Vanghelof ist Mitglied des Vorstands der Grünen Bildungswerkstatt Wien.

 

Martin Pollack, geb. 1944 in Oberösterreich, studierte Slawistik und osteuropäische Geschichte. Er arbeitete von 1987 bis 1998 Redakteur des “Spiegel” in Warschau und Wien und arbeitet heute als Schriftsteller und literarischer Übersetzer. 2011 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und 2012 den Stanislaw-Vincenz-Preis. Die  Veranstaltung  war inspiriert von seinem Buch „Der Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien“ (Zsolnay Verlag, Wien 2010, ISBN 978-3-552-05514-8).   

Guy Standing hat vom 1975 bis 2006 bei der ILO (International Labour Organization, Genf) in verschiedenen Positionen gearbeitet, zuletzt als Director der ILO Socio-Economic Security Programme sowie als Director des ILO Labour Market Policies Branch. Guy Standing is Fellow of the UK Academy of Social Sciences sowie Professorial Research Associate, School of Oriental and African Studies, University of London. Er ist unter anderem auch Mitglied der Editorial Boards des „European Journal of Industrial Relations“, „Development and Change“, „Indian Journal of Labour Economics“ und „Revista de economia critica“ sowie Gründungsmitglied und Co-President von BIEN - Basic Income Earth Network. 2016 wird Guy Standing auch Vortragender beim Forum Alpach zum Thema “Arbeitswelt, Verteilung und die Krise in Europa” sein.Bücher The Corruption of Capitalism: Why Rentiers Thrive and Work Does Not Pay (London: Biteback, 2016).A Precariat Charter: From Denizens to Citizens (London and New York, Bloomsbury Academic, 2014)The Precariat: The New Dangerous Class (London and New York, Bloomsbury Academic, 2011)

Klaudia Paiha ist Bundessprecherin der Alternativen und Grünen GewerkschafterInnen (AUGE/UG)Vorsitzende der AUGE/UG Fraktion in der Arbeiterkammer Wien, Mitglied des Vorstandes der Arbeiterkammer Wien, Mitglied des Bundesvorstandes der GPA-DJP sowie Bundessekretärin der UG-Unabhängige GewerkschafterInnen im ÖGB. Klaudia Paiha hat Forstwirtschaft studiert und eine Ausbildung zur Tischlerin absolviert sowie in verschiedenen atypischen Beschäftigungsverhältnissen gearbeitet. Ab 1994 war sie als Mitarbeiterin des Instituts zur Entwicklung gesellschaftspolitischer Alternativen Betriebsrätin. Seit 1999 ist sie im Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) beschäftigt. 

Photo credits: Franziska Klauser