Die dunkle Seite der Nachhaltigkeit.

GBW
Der Inhalt ihres Referats sei aber gleich geblieben, bemerkt Gronemeyer dazu. „Die dunkle Seite der Nachhaltigkeit ist jetzt eben Untertitel!“, sagt sie verschmitzt.
Josef Hackl, Leiter der Abteilung Nachhaltige Entwicklung im Umweltbundesamt, begrüßt weit über 100 Besucher*innen zu der Veranstaltung aus der Reihe „Mut zur Nachhaltigkeit“. Er stellt die 1941 in Hamburg geborene Gronemeyer als einstige Friedensforscherin vor, die unter anderem im Vorstand des Komitees für Grundrechte und Demokratie war und bei Greenpeace Deutschland mitwirkte.
Der Bauer aus den Bregenzer Bergen.
Ihren Vortrag beginnt die vielseitige Expertin mit einer Anekdote aus den Bregenzer Bergen. Dort habe ein befreundeter Bauer sie mit den beiden schlichten Worten „zu durchlässig“ zum Nachdenken über Nachhaltigkeit und Sprache gebracht.
Voll Begeisterung hatte sie ihm gegenüber die neuen, kurzen Busintervalle gelobt. Alle 30 Minuten könne sie nun in die Berge fahren. Was für ein Zugewinn an Lebensqualität für Touristen und Einheimische!
Das „zu durchlässig“ des Bauern, sagt sie, entsprang dabei nicht einer Angst vor Touristenströmen, sondern die Busmaßnahme ging ihm schlicht zu weit. Sein „zu durchlässig“ meinte „eine Grenzverletzung, eine Unangemessenheit, kein rechtes Maß für die Situation vor Ort. Es stand für Rücknahme und Rückbau einer nicht angemessenen Maßnahme, für einen Widerruf von bereits Verwirklichtem, für Annullierung eines Zustandes statt Verbessern und Überbieten“ durch bequemere, halbstündliche Intervalle. Mit „zu durchlässig“ meinte der Bauer auch die Grenze zweier Lebenswelten: seiner bergbäuerlichen und der städtischen. Verkehrt der Bus nun alle halben Stunden, ginge die Sesshaftigkeit – das Ureigene des Bauerntums – verloren. Die hier lebenden und einst unabhängigen Selbstversorger würden ihren Ort verlassen und sich so in ein System von Massenkonsum, fremdbestimmter Arbeit und Geldabhängigkeit begeben.
Homo automobilis.
In der Debatte Auto versus öffentlichen Verkehr zeigt Gronemeyer einen Widerspruch auf: „Wir alle wollen saubere Luft für die Gesundheit unserer Kinder, keine Staus und keinen Verkehrskollaps. Doch die Autoindustrie boomt weltweit.“ Dem Homo automobilis scheinen Gesundheit, Luft und Stau in der Realität egal. Die Einsicht komme gegen die Gewohnheit nicht an. „Zur Vernunft gebracht sind die Menschen längst“, sagt Gronemeyer, „sie handeln aber unvernünftig.“
Obwohl sich der Individualverkehr inzwischen selbst lahm lege, empfinde der Einzelne das eigene Auto immer noch als Garant für Zeitsouveränität, persönliche Freiheit und Individualität. Sachargumente ziehen nicht, denn die „verrückte Liebe zum Automobil“ sei manipuliert. Das erkenne man schon an der verdächtigen Sprache: „Optimierung, Attraktivität, Angebot“ – laut Gronemeyer Begriffe aus technischem Ingenieursjargon, Werbepsychologie und Markt. So würde „das vergötzte Wachstum am Kochen gehalten“.
Da alle Industriegesellschaften von der Automobilindustrie abhingen, gebe es kein Interesse für Veränderungen.
Selbe Mittel für Alternativen?
Mit denselben Mitteln seien Alternativen nicht zu machen, erklärt Gronemeyer. Wenn der öffentliche Verkehr „besser“ sei als das Auto, die Alternativschule eine „bessere“ Bildung befördere als die staatliche, der Bioladen „Besseres“ als Lidl verspreche, dann sei die Normalität nicht in Frage gestellt worden. Vielmehr werde nur mit denselben Mitteln „das Bessere“ verfolgt. Die Fortsetzung desselben aber, mit nur anderem Image, dürfe nicht als Alternative durchgehen.
Neue apokalyptische Reiter.
„Früher hießen sie Hunger, Krieg, Pestilenz und Tod, heute heißen die neuen apokalyptischen Reiter Naturwissenschaften, Ökonomie, Technik und Bürokratie“, sagt Gronemeyer. Erst durch ihr monopolistisches Zusammenwachsen und Zusammenspiel würden „die glorreichen Vier“ zerstörerische Kräfte entfalten, betont sie. Das Monopol des Weltglaubens hätten die Naturwissenschaften, das Monopol der Weltverteilung habe die Ökonomie, das der Weltgestaltung die Technik und jenes der Weltregelung die Bürokratie. Ihre Allianz sei eine Supermacht mit Anspruch auf Weltherrschaft: Es gehe um Weltverwertung durch profitorientierte Ökonomie, Weltverändern durch Naturwissenschaften und Technik und Sachzwänge durch Bürokratie.
Verzicht und Ausblick ins Abseits.
Systemischen Verzicht hält Gronemeyer für ein „absolutes Unding“. Eine Ökodiktatur sei auch keine Lösung. „Empörung und Ekel führen zu Verzicht“, sagt sie und spricht auch von der „Kunst des Unterlassens“.
Die Menschen müssten die Stirn haben, die Allmacht des Systems zu ignorieren. Sie müssten die enorme Macht des Systems erkennen, dürften sie aber nicht anerkennen, betont Gronemeyer. Das sei möglich durch Desertieren, machtleere Orte finden, sich abkapseln. Die Form des Desertierens und die Orte seien eine persönliche Angelegenheit, für die es keine Ratschläge gebe. Nur ein paar Schlagworte: Fürsorge statt Vorsorge, Kooperation, Teilen und ein Zusammenspiel von Könnern mit Talenten sei notwendig. „Es gibt keinen untalentierten Mensch“, fügt Gronemeyer hinzu und betont: Die Nichtzugehörigkeit zu den Massenkonsumierenden sei ein Stück Freiheit. In der Kultur des Abseits sei Zeit Zeit und nicht Geld.
Am Schluss zitiert die Professorin den Wahlspruch des Zentralkomitees umherschweifender Eierdiebe, einer Gruppe junger Leute im Berlin der Achtzigerjahre: Wir kämpfen nicht gegen die Fehler des Systems, sondern gegen seine Vollkommenheit.“
Die Autorin Karina Böhm hat Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Wien und São Paulo studiert. Sie ist Chefin vom Dienst und Mitglied des GBW-Redaktionsteams.
Infos.
Marianne Gronemeyer
Roman-Tipp ins Abseits: „Das lässt sich ändern“ von Birgit Vanderbeke.
Veranstalter der Reihe „Mut zur Nachhaltigkeit“: Zentrum für Globalen Wandel und Nachhaltigkeit (BOKU), BMLFUW und Risiko:dialog (Umweltbundesamt, Radio Ö1, BOKU, BMG, BMWFW, BMLFUW, Austrian Power Grid) in Zusammenarbeit mit der Kommunalkredit Public Consulting GmbH und mit freundlicher Unterstützung der Hofer KG und der Stiftung „Forum für Verantwortung“, Deutschland.