Energie in Chile: Wofür und für wen? Der Konflikt um das umstrittene Wasserkraftprojekt Alto Maipo.
Eine breit angelegte Initiative aus Umwelt- und Touristenverbänden, lokalen Aktivist*innen, Gewerkschaften, Anwält*innen und Politiker*innen sagt „Nein!“ zu zwei Wasserkraftprojekten in der Andenschlucht Cajón del Maipo. Mit dem Slogan No Alto Maipo üben diese seit dem Beginn der Planungen im Jahr 2007 Druck auf den chilenischen Energieriesen AES Gener aus. Das Unternehmen hat ein internationales Konsortium mit dem Bau der Anlagen mit einer Gesamtleistung von 531 Megawatt beauftragt, an dem auch die chilenische Filiale der Strabag AG beteiligt ist. 2012 unterzeichnete der österreichische Baukonzern einen Vertrag über umgerechnet 356 Millionen Euro für die Konstruktion einer Teilstrecke eines unterirdischen Wassertunnels. Weder die Filiale in Santiago noch die Konzernzentrale der Strabag International GmbH in Köln antworteten auf Anfragen zu den Protesten in Chile. Trotz zahlreicher Proteste und Beschwerden begannen im Dezember 2013 die Bauarbeiten.
Strom für Bergbau auf Kosten von Umwelt und Bevölkerung.
Der Anlass für den lokalen Widerstand sind nicht nur die befürchteten negativen Umweltauswirkungen und die Nachteile für die Landwirtschaft und den Tourismus. Als skandalös bezeichnet die Sprecherin der Initiative, Marcela Mella Ortíz, vor allem das Risiko einer Trinkwasserknappheit für Santiago. Noch dazu für eine Stromproduktion, die zu einem großen Teil nicht für die Bürger*innen der Region vorgesehen ist. AES Gener unterzeichnete im Juni 2013 einen Vertrag mit dem Bergbaukonzern Antofagasta Minerals. Dieser finanziert zu vierzig Prozent das Projekt und beansprucht bis zu 20 Jahre lang 160 Megawatt für den Betrieb einer Kupfermine 200 km nördlich von Santiago. Bürgerinitiativen kritisieren, dass laut Studien die Energieproduktion die von AES Gener vorhergesagten 531 Megawatt nicht erreichen wird, da der Maipo nicht genug Wasser führt. Der Großteil der gewonnenen Energie wird daher an die Bergbauindustrie gehen.
Ein Eingriff in die „grüne Lunge“ Santiagos.
Die großen Vorbehalte gegen das Energieprojekt haben auch mit der Bedeutung des Baugebietes für die regionale Bevölkerung zu tun. Die Andenschlucht Cajón del Maipo im Südosten Santiagos gilt gemeinhin als „grüne Lunge“ der sechs Millionen Einwohnerstadt. Das Gebiet im und um den Nationalpark el Morado mit seinen Vulkanen und Gletschern dient zahlreichen Hauptstädter*innen und Ökotourist*innen als Erholungs- und Freizeitgebiet. Die Schlucht erstreckt sich rund um den Flusslauf des Maipo. Mit einer Länge von 250 km dienen der Maipo und seine Zuläufe als zentrale Trinkwasserquelle der gesamten Hauptstadtregion. Die Initiative ordnete mehrere unabhängige Gegenuntersuchungen an, die gravierende Umweltauswirkungen für Flora und Fauna sowie auf den natürlichen Flusslauf des Maipo feststellten.
Widerspruch zwischen der Wasser- und Stromversorgung Santiagos.
No Alto Maipo kritisiert insbesondere, dass die Kraftwerke als Laufwasserkraftwerke genehmigt wurden, obwohl das Wasser von drei Zuflüssen des Maipo, dem Rio Volcán, dem Rio Yeso und dem Rio Colorado, in einen unterirdischen Tunnel von 70 Kilometern Länge und acht Metern Durchmesser umgeleitet und dem Fluss an anderer Stelle wieder zugeführt werden soll. Daher wird der Fluss über eine Strecke von 100 Kilometern mit dem Mindestpegel fließen, was die sichere Trinkwasserversorgung der Region und die Bewässerung der lokalen Kleinbäuer*innen bedroht. Laut dem chilenischen Wasserkodex, der noch aus der Zeit der Militärdiktatur stammt, sind Wasserrechte in Chile handelbar und die Trinkwasserversorgung obliegt privaten Unternehmen. Der Konzern Aguas Andinas, der Trinkwasser in Santiago bereitstellt, weigerte sich aufgrund des Risikos zunächst seine Wasserrechte an AES Gener abzutreten. Im Juni 2011 wurde jedoch ein Vertrag geschlossen, in dem Aguas Andinas einen Teil seiner Wasserrechte für den Bau der Kraftwerke abtritt. Dafür erhält Aguas Andinas 40 Jahre lang Kompensationszahlungen. Zusammen mit der im Dezember letzten Jahres gesicherten Finanzierung stellte der Vertrag den entscheidenden Schritt zur Genehmigung des Projekts dar. Doch auch der Baubeginn hält die engagierten Bürger*innen nicht davon ab weiterhin Berufung gegen das sozial- und umwelttechnisch nicht nachhaltige Projekt einzulegen.
Energiereform mit Bürger*innenbeteiligung.
Der Konflikt um das Projekt spiegelt die tiefe Unzufriedenheit großer Teile der chilenischen Bevölkerung mit dem nationalen Energiesystem wider. Die Art und Weise wie der Ausbau und die Sicherung der Energieversorgung geschieht, stellen zivilgesellschaftliche Akteur*innen, wie jene von No Alto Maipo, zunehmend in Frage. Gefordert werden mehr Mitspracherechte, der dezentrale Ausbau der erneuerbaren Energien, und vor allem die Zerschlagung der monopolartigen Strukturen. Diese ermöglichen es bislang, dass fünf Großkonzerne den Energiemarkt für die Erzeugung, den Netzbetrieb und die Energieverteilung in Chile mit über neunzig Prozent dominieren. Die sich 2011 landesweit im Bau befindenden Projekte waren zu 68,7 Prozent Gas- und Kohlekraftwerke, im Gegensatz zu Errichtung von nur 3,9 Prozent zur Nutzung von Windenergie, Photovoltaik oder Geothermie. Eine Entwicklung, die nicht mit der im Mai 2010 abgegebenen Regierungserklärung übereinstimmt, den Anteil der Erneuerbaren in Chile bis 2020 auf zwanzig Prozent zu erhöhen.
Es sind vor allem diese Faktoren, welche Initiativen wie No Alto Maipo auch weiterhin auf Chiles Straßen führen, um „Nein!“ zu den bestehenden Strukturen und „Ja!“ für eine gerechte, partizipatorische und nachhaltige Energieversorgung Chiles zu rufen.
Die Autorin, Meike Siegner, absolviert momentan ein Praktikum im Auslandsbüro der Heinrich Böll Stiftung in Santiago de Chile und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.
Links.
No Alto Maipo
Protestvideo
Der offizielle Report einer 2011 durchgeführten Studie der technisch-parlamentarischen Bürgerkommission für eine nachhaltige Energieversorgung in Chile