Energie-Schmäh: Die Mär vom Wettbewerbsnachteil.
Die Europäische Kommission hat sich kürzlich die Re-Industrialisierung Europas auf die Fahnen geschrieben. Zwischen 2000 und 2012 ist der Industrieanteil an der EU-weiten Bruttowertschöpfung von 22 auf 19,1 Prozent gefallen – dem möchte sie gegensteuern. Arbeitskosten zu Dumpingpreisen haben etwa die Textil- oder Elektronikindustrie schon längst nach Fernost gehen lassen. Nun sehen viele Europäer in den USA einen Konkurrenten um die energieintensiven Industriezweige wie Stahl oder Papier. Neben niedrigeren Energiesteuern locken die Amerikaner mit niedrigen Gaspreisen. Ob es sich bei dem billigen Schiefergas aus Fracking nur um einen weiteren Energie-Schmäh handelt, werde ich übrigens in einem meiner nächsten Beiträge behandeln.
Österreichs Industrie profitiert vom Strompreis.
Aber zurück nach Europa: Die Bedeutung der Industrie ging seit der Jahrtausendwende zurück. Dieser Trend vollzog sich aber nicht gleichmäßig. Besonders schlimm erwischt hat es etwa Finnland, wo der Industrieanteil an der Wirtschaftsleistung dramatisch von 28 auf 19 Prozent eingebrochen ist. Trotz äußerst niedriger Industriestrompreise. Deutschland hingegen konnte von 25,2 sogar leicht auf 25,8 Prozent zulegen. Auch in Deutschland ist Industriestrom günstig, so billig wie zuletzt vor zehn Jahren und nur knapp über dem Niveau der USA. Das ist vor allem Wind- und Sonnenstrom zu verdanken, welche die Preise an der Leipziger Strombörse EEX zeitweise ins Bodenlose fallen lassen. Ein Effekt, von dem auch Österreichs Industrie in hohem Maße profitiert.
Wir haben also Länder wie Finnland (oder auch Frankreich), wo die Industrie trotz niedriger Strompreise stark an Bedeutung verliert. Und auf der anderen Seite stehen Deutschland oder Österreich, wo dies – bei ebenfalls günstigen Strompreisen – bislang nicht der Fall ist. Am Strom liegt’s also offenbar nicht.
Energiepreise für Standort irrelevant.
Und wie ist das jetzt mit dem Gaspreis? Der ist aktuell in Europa fast dreimal so hoch wie in den USA. Das hat zwar fast nichts mit Europas Klimaschutzbemühungen zu tun, aber sehen wir uns das trotzdem einmal genauer an. Die voestalpine baut derzeit ein Werk in Texas und Wolfgang Eder, Vorstand des Linzer Stahlkonzerns, betont ständig die Bedeutung des Gaspreises für diese Entscheidung.
Nun, eine gewisse Rolle hat der Gaspreis bestimmt dabei gespielt. Allerdings zweifle ich daran, dass diese Rolle von so herausragender Bedeutung war, wie Herr Eder es gerne darstellt. Wie ich darauf komme? Das World Economic Forum (Weltwirtschaftsforum), eine Vereinigung von mehr als 1.000 weltweit agierenden Konzernen, erstellt seit mehr als drei Jahrzehnten eine Länder-Rangliste der Wettbewerbsfähigkeit. Sieht man sich diesen Global Competitiveness Index (Globaler Wettbewerbsindex) an, stellt man fest, dass Energiepreise darin nicht vorkommen.
Das Weltwirtschaftsforum sagt also nichts weniger, als dass Energiepreise irrelevant sind, wenn Unternehmen einen Standort auswählen. Im Gegensatz zu einem innovativen Umfeld: Eine gute Vernetzung von Wirtschaft und Wissenschaft sowie hohe Investitionen in Forschung und Entwicklung haben das größte Gewicht im Index. Auch eine gute Infrastruktur wird hoch gewichtet – und hier hat der neue texanische Standort der voestalpine tatsächlich etwas zu bieten. Denn das neue Werk entsteht im Industriegebiet des Hochseehafens von Corpus Christi – eines der wichtigsten Tore der USA nach Lateinamerika. Ein idealer Standort, wenn es darum geht, sowohl die Märkte Nord- als auch Südamerikas mit Hot Briquetted Iron (Eisenschwamm) aus dem Hause voestalpine zu versorgen. Corpus Christi hat ein äußerst attraktives Gesamtpaket zu bieten: eine hervorragende Lage, erstklassige Infrastruktur, gut ausgebildete aber billige Arbeitskräfte, niedrige Steuern, wenig Bürokratie und – als Teil des Pakets – eben im Moment auch niedrige Gaspreise. Linz kann da einfach nicht mithalten. Muss es auch gar nicht. Denn hätte voestalpine dieses Werk nicht in Texas errichtet, dann vermutlich irgendwo in Lateinamerika.
Klimaschutz beflügelt Industrie.
Spricht das Weltwirtschaftsforum den Energiepreisen besonderen Einfluss auf Standortentscheidungen ab, so geht das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sogar noch einen Schritt weiter. Europas Klimaschutzbemühungen hätten keine negativen Effekte auf die heimische Industrie. Ganz im Gegenteil würden sie diese sogar noch beflügeln! Denn wenn etwa höhere Kosten für CO2-Emissionen die Energiepreise erhöhen, steigert das den Anreiz in Energieeffizienz zu forschen und zu investieren. Die EU-Kommission selbst hat 2011 folgende Berechnung angestellt: Sollte die Europäische Union 2050 ihren Bruttoenergieverbrauch zu 75 Prozent aus Erneuerbaren Energiequellen decken, bleiben die Gesamtkosten des Energiesystems in etwa gleich. Jedoch wird jenes Geld, das wir heute noch für den Import fossiler Energie quasi zum Fenster hinauswerfen, zum größten Teil für Investitionen in erneuerbare Energien, Stromnetze und Energieeffizienz verwendet. Im Jahr 2030 sollen das EU-weit rund 160 Milliarden Euro sein, 2050 sogar schon 550 Milliarden, die so zu Wachstum und neuen Arbeitsplätzen führen!
Panikmache einiger Weniger.
Also weshalb der ganze Wirbel? Warum malt die Industrie solche Abwanderungsszenarien an die Wand? Diese Fragen lassen sich beantworten, wenn wir genauer hinsehen. Es ist gar nicht DIE Industrie, die da jammert. Denn DIE Industrie gibt es gar nicht. Es sind die Vertreter*innen einiger weniger, aber dafür umso einflussreicherer Zweige: der energieintensiven Industrie. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Im Durchschnitt machen etwa die Energiekosten nur 2,2 Prozent der Umsätze der deutschen Industrie aus! Das DIW hat deshalb jene Industriebranchen herausgegriffen, die deutlich höhere Energiekosten haben: 6 Prozent des Umsatzes und mehr. Hier findet man die Stahl-, Papier- oder Zementindustrie. Summiert man all diese energieintensiven Unternehmen auf, macht man eine überraschende Entdeckung: Sie steuern gerade einmal 1,5 Prozent zur deutschen Bruttowertschöpfung bei, und nur 8 Prozent zu jener der deutschen Industrie. Oder anders gesagt: Für 92 Prozent der industriellen Bruttowertschöpfung sind die Energiepreise eine vernachlässigbare Größe. In Österreich sind die Größenverhältnisse ähnlich.
Wenn also wieder einmal DIE Industrie über die hohen Energiepreise klagt, jammert in Wahrheit eine kleine, aber laute Minderheit. Und wenn Herr Eder die niedrigen Gaspreise in den USA rühmt, so mag das für einen kleinen Teil des Geschäfts der voestalpine – wir sprechen von 150 Mitarbeiter*innen, die in Texas beschäftigt werden sollen – wichtig sein. Aber diese 150 Beschäftigten gehen mit ziemlicher Sicherheit nicht auf Kosten Europas sondern eher auf jene lateinamerikanischer Länder wie Mexiko oder Brasilien.
Der Autor, Thomas Mördinger, arbeitet im Bereich Energiewende bei ÖKOBÜRO – Allianz der Umweltbewegung und ist Mitglied der Redaktion der GBW Wien.
Links.
European Commission (2011): Energy Roadmap 2050 Impact assesment and scenario analysis
World Economic Forum: The Global Competitiveness Report 2013-2014
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2014): Energie- und Klimapolitik: Europa ist nicht allein
TRAVELbusiness: Texas sucht mehr Investoren aus Österreich für Corpus Christi