Für eine neue Kultur der Beteiligung
von Franziska Kohler
Der Ruf nach mehr Bürger*innenbeteiligung wird unüberhörbar. Es verstärkt sich kollektive Unzufriedenheit mit der repräsentativen Demokratie und das Gefühl, dass Politik über die Köpfe der Bevölkerung hinweg gemacht wird. Der Unmut entlädt sich bei konfliktbeladenen Projekten wie dem umstrittenen Umbau des Stuttgarter Bahnhofs. Immer mehr Menschen setzen sich daher für mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten ein. Welche strukturellen Rahmenbedingungen dies braucht und inwiefern dies mit einer neuen Kultur der Beteiligung einhergehen muss, war Gegenstand von „Im Zeit-Raum. Bürger/innenbeteiligung jetzt! Wie wir politisch wirksam werden können“. Die Veranstaltung fand als Teil der Ö1-Schwerpunktreihe „Open Innovation“ in Kooperation mit dem Lebensministerium statt. Moderator Johannes Kaup begrüßte auf dem Podium Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in der baden-württembergischen Landesregierung, Patrizia Nanz, Ko-Autorin des "Handbuch Bürgerbeteiligung", Professorin an der Universität Bremen und Gründungsmitglied des European Institute for Public Participation (EIPP), Claudine Nierth, Mitbegründerin und Sprecherin des Vereins "Mehr Demokratie" Deutschland, Rita Trattnigg, Politologin, Expertin für Nachhaltigkeit und soziale Innovationen am Lebensministerium und Stefan Schartlmüller, Aktivist und Sprecher bei IG Demokratie.
„Ich komme als ich und gehe als wir“.
Am Beispiel des Bürger*innenrats veranschaulichte Rita Trattnigg, inwiefern Instrumente der Bürger*innenbeteiligung mit einer neuen Kultur der Beteiligung Hand in Hand gehen. Im Bürger*innenrat, wie es ihn mittlerweile in mehreren Gemeinden in Österreich gibt, identifizieren zwölf zufällig ausgewählte Menschen Themen öffentlichen Interesses und entwickeln Verbesserungs- oder Lösungsvorschläge. Die Moderationsmethode „dynamic facilitation“ soll es erleichtern, selbstbestimmt die Anliegen der Beteiligten herauszufinden und auf kreative Weise gemeinschaftliche Lösungen zu scheinbar unlösbaren Problemen zu entwickeln. Durch die Auswahl nach dem Zufallsprinzip kommen dabei Menschen zusammen, die sich sonst nicht in einer solchen Weise engagieren würden und zudem nicht zusammen an einem Tisch säßen. So öffnet sich ein Raum, in dem Menschen in Dialog treten, um sich – auch jenseits von Parteipolitik – einzubringen, zuzuhören und auszutauschen. Die Bürger*innenräte fördern damit eine Kultur des tiefen und respektvollen Zuhörens, Wertschätzens und Verstehens. Einher geht dies mit der Haltung, andere Sichtweisen jenseits von Be- oder Verurteilung wertzuschätzen und einander als komplementär zu verstehen. Letzteres bedeutet, die anderen Sichtweisen durch die eigenen nicht zu zerschlagen, sondern zu ergänzen. „Ich komme als ich und gehe als wir“, fasste Trattnigg diese Erfahrung zusammen.
Initiativrechte für „die Hefe im Brei der Bürgerbeteiligung“.
Die baden-württembergische Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung Gisela Erler betonte, dass die so genannten Wutbürger*innen nicht ausgeklammert werden dürfen, wenn die Politik Vorschläge der Bürger*innenräte einbezieht. Die „aufsässigen Bürgerinitiativen“ bezeichnete sie als „Hefe im Brei der Bürgerbeteiligung“ und plädierte dafür, diese Menschen frühzeitig in einen Dialog einzubinden. Claudine Nierth, Mitbegründerin von „Mehr Demokratie“, betonte die Notwendigkeit, das Initiativrecht zu stärken und Strukturen zu schaffen, damit Menschen ihre Vorschläge wirkungsvoll einbringen können. Dass Bürger*innen in Deutschland kein Recht haben, Volksbegehren zu bundespolitischen Themen zu starten, um einen Volksentscheid zu erreichen, kritisierte Nierth. Sie bemängelte, dass gerade die großen und wichtigen Entscheidungen jenseits wirklicher Mitbestimmungsmöglichkeiten liegen: „Je größer eine Entscheidung, desto weniger Menschen schauen drauf!“. Ihre Initiative „Mehr Demokratie“ Deutschland macht sich dafür stark, dies umzudrehen.Mit ihrer Aussage „Die Qualität einer Entscheidung hängt vor allem ab vom Prozess, der zur Entscheidung führt“, leitete Nierth zu einem Thema über, welchem das Podium unisono zustimmte: Der Notwendigkeit einer Entschleunigung politischer Entscheidungsprozesse. Die Alltagshektik der Politik mache es unmöglich, qualitativ gute Entscheidungen zu treffen. Es braucht Zeit.
Mutpolitiker, demokratische Bildung und Selbstermächtigung.
Patrizia Nanz, die gemeinsam mir Miriam Fritsche das Handbuch Bürgerbeteiligung verfasste, sah als Voraussetzung für mehr Bürger*innenbeteiligung „Mutpolitiker, die aufhören zu meinen, das Volk vor sich selbst schützen zu müssen – und endlich dem Volk vertrauen“. Auch Stefan Schartlmüller von der IG Demokratie kritisierte, dass sich unsere Regierungsparteien vor Bürger*innenbeteiligung fürchten: „Ich kann mich nicht sozialdemokratische Partei nennen und dann Angst haben, die Bürger seien nicht gebildet genug um mitzubestimmen“. Dass Bildungsdefizite bestehen, erscheint offensichtlich. Diese dürfen aber nicht als Grund für die Beschränkung der Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger*innen betrachtet werden, sondern als Anlass umfangreicher Bildungskampagnen für eine Kultur der Beteiligung. Dabei geht es nicht nur um entsprechende Lehrpläne und die Ausbildung von Beamten, sondern auch um eine demokratische Gestaltung sämtlicher gesellschaftlicher Bereiche und eine Öffnung von Räumen des Dialogs. Die Expertin für soziale Innovationen am Lebensministerium Rita Trattnigg forderte, dass wir uns selbst wieder als Souverän begreifen, uns daran erinnern, Miteigentümer*innen des Gemeinwesens zu sein und entsprechende Verantwortung übernehmen. „Partizipationskultur beginnt bei mir selbst, bei meinen Haltungen“, betonte sie und erinnerte daran, dass auch das eigene Leben und der eigene Wirkungskreis als Raum verstanden werden muss, wo Lernprozesse hin zu einer Kultur der Beteiligung stattfinden.