Gehörgang - Spurensicherung an Orten politischer Selbstberechtigung.
GBW
Im Rahmen der Wienwoche im Sommer 2013 entwickelt, eröffnen die hörbaren Spaziergänge eine neue Sichtweise auf die Stadt. In das Zentrum rücken Marginalisierte und Angehörige von Minderheiten und ihr Kampf gegen Ausschlüsse und für politische Selbstberechtigung: für wirkliche Demokratie.
Die Spurensicherung dieser demokratiepolitischen Auseinandersetzungen ermöglichen Audioguides und Diskussionen mit den Initiator*innen des Projektes „Gehörgänge“ an fünf ausgewählten Orten.
Verdeckte Geschichte wird so sichtbar gemacht. Die hohe Teilnehmer*innenzahl zeigt: Das Interesse ist groß, hinter die demokratische Fassade zu schauen.
„Fremd“ per Geburt - das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht.
Die Tour beginnt vor dem AKH, Österreichs größtem Krankenhaus. „36 Kinder kommen in Österreich jeden Tag zur Welt, denen etwas Wichtiges für ihr Leben in Österreich fehlt: die österreichische Staatsbürgerschaft“, erklärt Gerd Valchars in seinem Audiobeitrag. Etwa jedes sechste Baby würde damit als Fremde*r geboren. Die Grundlage dafür sieht Valchars in der österreichischen Rechtslage: Österreich halte strikt am Abstammungsprinzip fest und kombiniere es nicht mit dem Geburtslandprinzip wie andere Länder. „Die österreichische Staatsbürgerschaft wird quasi vererbt“, erklärt Valchars. Kinder, die in Österreich geboren werden, deren Eltern aber keine österreichische Staatsbürgerschaft haben, würden so leer ausgehen. Im Audiobeitrag werden die problematischen Folgen für die Betroffenen erläutert: Befristete Aufenthaltstitel nehmen Sicherheit und erfordern regelmäßig Verlängerungsverfahren. Diese kosten nicht nur Geld, sondern währenddessen kann es auch passieren, dass Sozialleistungen nicht ausgezahlt werden.
Auch die Einbürgerung stellt hohe Hürden auf: Unbescholtenheit und ein gesichertes Einkommen der Eltern sind notwendig, die bisherige Staatsbürgerschaft muss aufgegeben werden.
Valchars verweist auf internationale Beispiele, die zeigen, dass es politisch machbar sei, die Staatsbürgerschaft nicht nur an der Abstammung zu orientieren, sondern auch an dem Ort der Geburt. Österreich verweigere sich aber diesen Entwicklungen.
Ich will nicht betteln, aber dürfen muss ich.
Bei der zweiten Station im alten AKH thematisiert Julia Hofbauer und ihr Audiobeitrag die Frage, wer den öffentlichen Raum nutzen darf und wer ausgeschlossen wird. Im alten AKH wurden diese Auseinandersetzungen etwa im Rahmen des Christkindlmarktes geführt. „Der Konsum besetzt den öffentlichen Raum“, erläutert Hofbauer, für Bettler*innen oder Verkäufer*innen von Straßenzeitungen werde er zunehmend eingeschränkt.
Obwohl Betteln Teil der Meinungsfreiheit ist und damit ein Menschenrecht sei, werde es politisch anders behandelt, kritisiert sie. Das Wiener Sicherheitsrecht verbiete viele Arten des Bettelns und belege sie mit hohen Strafen - mit der Begründung, die Bettler*innen so vor der „Bettelmafia“ zu schützen. Ob sie überhaupt existiere, sei jedoch fraglich und Bestrafung bettelnder Menschen helfe nicht, Ausbeutungsverhältnisse aufzuheben, fügt sie hinzu. Die Bettelverbote sieht Ferdinand Koller, aktiv bei der Bettellobby, im Hörbeitrag deshalb anders begründet: „Bettelverbote haben den verdeckten Beweggrund, die Leute aus dem öffentlichen Raum zu schaffen.“
Als ein mögliches Mittel des Protestes gegen diese Politik nennt Hofbauer die Anwesenheit bei Polizeikontrollen, sofern es von den Bettler*innen gewünscht wird. „Amtshandlungen sind in Österreich öffentlich und dürfen daher mitverfolgt und dokumentiert werden.“
Zivilcourage und Aktivismus gegen Abschiebungen.
Über die Notwendigkeit sich einzumischen und Zivilcourage zu zeigen, informiert auch der Hörbeitrag vor dem Polizeianhaltezentrum (PAZ) Roßauer Lände. „Mehr als 2000 Abschiebungen führt die Fremdenpolizei jährlich durch“, erläutert Gerd Valchars in seinem Beitrag, viele nähmen vom PAZ aus ihren Anfang. Damit ist es ein wichtiger Ort der Auseinandersetzungen - gelagerte Absperrgitter an der Straßenecke beweisen dies. Denn nicht nur einmal versuchten Aktivist*innen durch Sitzblockaden eine Abschiebung zu verhindern.
Im Hörbeitrag wird deutlich, dass besonders jene Kampagnen gegen Abschiebungen erfolgreich sind, die laut, breit und frühzeitig organisiert werden. „Je größer die Öffentlichkeit ist, desto größer ist der Schutz für die Flüchtlinge“, zeigt die Aktivistin Sonja Grusch die Wichtigkeit auf, aktiv zu werden. Etwa 50 Prozent der Abschiebungen, die von einer Kampagne begleitet werden, würden so nicht ausgeführt. Dies zeigt: Zivilcourage kann erfolgreich sein.
Der Kampf um soziale und existentielle Absicherung.
Die Arbeitswelt verändert sich und stellt die Gewerkschaften vor neue Herausforderungen. Ida Divinzenz erläutert in ihrem Hörbeitrag an der ehemaligen Zentrale des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) die Folgen der Neoliberalisierung: „Die Unsicherheit des Arbeitslebens wird auf den Einzelnen übertragen. Eine Verantwortung, die ursprünglich bei den Unternehmen war.“ Sichtbar sei dieser Wandel in den neuen und zunehmend prekären Beschäftigungsverhältnissen, wie der Neuen Selbstständigkeit, Werkverträgen und Ich-AGs.
Eine Beratungsstelle für undokumentiert arbeitende Menschen, welche vom Prekär-Café und der Arbeiterkammer (AK) initiiert wird, sowie die Beratungsstelle „work@flex“ der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA- djp) sind Versuche, den Herausforderungen einer veränderten und immer prekäreren Arbeitswelt zu begegnen.
Für den Politikwissenschaftler Emmerich Talós ist der steigende Druck von Seiten der Unternehmen vor allem eine Aufforderung an die Gewerkschaften, konfliktbereiter zu sein. „Gewerkschaften müssen Flagge zeigen. Mehr als das bisher der Fall war.“
In der nachfolgenden Diskussion wird kritisiert, dass die Führungsriege der Gewerkschaften vor allem weiß und männlich sei. Ausgehend von den eigenen Lebenserfahrungen bekämen so etwa Themen, die für Migrant*innen oder Frauen* wichtig seien, häufig wenig Beachtung. Die Gewerkschaften müssen auch in den eigenen Reihen Ausschlüsse verringern, so die Forderung der Teilnehmenden.
Der Kampf um politische Teilhabe.
In Österreich wohnen, aber politisch nicht mitbestimmen können. Da das Wahlrecht stark an die Staatsbürgerschaft gebunden ist, ist dies die Realität von etwa einer Million Menschen, erklärt der letzte Audiobeitrag. 2004 verhinderte der Verfassungsgerichtshof (VfGH) eine Ausweitung des Wahlrechts auch auf Nicht-Staatsbürger*innen. Die Wohn- und Wahlbevölkerung driftet somit auseinander, mit starken demokratiepolitischen Konsequenzen, wie der Beitrag weiter erläutert.
„Im Sinne der Demokratie müsste das Wahlrecht auf Nicht-Staatsangehörige ausgeweitet werden“, so Aleksandra Kolodziejczyk in ihrem Audiobeitrag. Bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen sei dies aber unrealistisch. Darauf wollten auch die Aktivist*innen der Kampagne Kampagne „Wahlwexel Jetzt!“ aufmerksam machen. Die Kampagne zur Nationalratswahl letztes Jahr bot sich als Plattform an, bei der Wahlberechtigte Nicht-Wahlberechtigten ihre Stimme zur Verfügung stellen konnten.
Zwei weitere politische Stadtspaziergänge, die die Grüne Bildungswerkstatt Wien in den nächsten Wochen organisiert, geben die Möglichkeit, Wien von einer neuen Seite kennenzulernen. Die Audiofiles der Gehörgänge aber können auch auf der Homepage des Projekts heruntergeladen und die Stationen so alleine oder zusammen entdeckt werden.
Der Autor, Raphael Kiczka, ist Sozial- und Politikwissenschaftler und Mitglied des GBW Wien Redaktionsteams.