Springe zur "Navigation" Springe zum "Inhalt" Springe zum "Footer" Springe zur "Startseite"

Gendered Genocide: Frauen als Opfer und Täterinnen im Völkermord in Ruanda.

Vor genau 20 Jahren wurde er durchgeführt – der Völkermord in Ruanda. Während die Welt zunächst die Augen vor dem Grauen verschloss, wird er später als einer der schrecklichsten Völkermorde in die Geschichte eingehen. Innerhalb von drei Monaten schlachteten radikale Hutu mehr als 800.000 Menschen, vorwiegend Tutsi, ab. Frauen spielten dabei auf beiden Seiten eine zentrale Rolle: als Opfer, aber auch als Täterinnen!

Wie konnte es soweit kommen?
Der Völkermord in Ruanda wurzelt tief in der kolonialen Geschichte Ruandas. Die Unterscheidung zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen Hutu und Tutsi war im vorkolonialen Ruanda keine ethnische sondern eine soziale. Als Viehzüchter waren Tutsi wirtschaftlich besser gestellt als die Ackerbauern Hutu. Die Zugehörigkeit zu „Hutu“ oder „Tutsi“ war jedoch variabel. Erst die deutsche und später die belgische Kolonialmacht „ethnisierten“ diese Klassifizierungen. Sie bauten ihre rassistische Herrschaft auf der Tutsi-Elite auf und festigten die Diskriminierung der Hutu, einem aus ihrer Sicht primitiven Volk. Diese Unterdrückung dauerte bis zur „Hutu-Revolution“ im Jahr 1959 an, als die Bevölkerungsmehrheit (Hutu) gegen die Tutsi-Elite aufbegehrte und die Macht in Ruanda übernahm. Dabei verloren tausende Tutsi ihr Leben, hunderttausende flohen in die Nachbarstaaten, wo sie mehrere Jahrzehnte lang in Flüchtlingslagern lebten. Hier formierte sich in den 80er Jahren die Rebellenbewegung „Rwanda Patriotic Front“ (RPF) unter Führung von Paul Kagame, der heute Staatspräsident von Ruanda ist. Mit dem Einmarsch der RPF Anfang der 90er Jahre brach der Krieg aus, der mit dem im Sommer 1993 abgeschlossenen Friedensvertrag von Arusha und der darin vereinbarten Teilung der Macht vorerst beseitigt erschien. Im Hintergrund waren aber die Vorbereitungen für den Genozid im Gange: Macheten wurde billigst aus China importiert und Todeslisten erstellt. Als am 6. April 1994 das Flugzeug mit dem ruandischen Staatspräsidenten Habyarimana und dem Präsident von Burundi abgeschossen wurde, begann Stunden später der Völkermord, der vom Großteil der Regierung und dem Militär getragen wurde. Die Armee, Polizei, paramilitärische Einheiten, wie etwa die Interahamwe-Miliz, sowie zahlreiche lokale Gruppierungen und Einzeltäter*innen haben den Völkermord durchgeführt. Der Plan basierte aber nicht nur auf der Vernichtung der Tutsi, auch moderate Hutu und Hutu, die mit Tutsi verheiratet waren, wurden verfolgt. Die internationale Gemeinschaft, die afrikanischen Nachbarstaaten, die NGOs und die Medien haben ihre Augen verschlossen und trotz existierender Beweise für die Planung und Umsetzung des Völkermords nicht eingegriffen. Erst der Vormarsch der RPF im Juli 1994 beendete das Grauen.

Sexuelle Gewalt: fataler Mythos um Tutsi-Frauen.
Seit der Hutu-Revolution festigte sich ein Mythos um Tutsi-Frauen, der ihnen während des Genozids zum Verhängnis wurde: Ihre Wahrnehmung als Sexobjekte und Verführerinnen gepaart mit ihrer vermeintlichen Arroganz und Überlegenheit führte zu systematischen Vergewaltigungen von Tutsi-Frauen. Dieser „hate and love discourse“ (1) gipfelte schließlich in Massenvergewaltigungen von Tutsi-Frauen während des Genozids. Die Sexualisierung „schuf ein gesellschaftliches Klima, in dem Massenvergewaltigungen von Tutsi-Frauen eine angemessene Form von Rache (...) waren“(2) (Übersetzung der Autorin).
In vielen Fällen folgte die Ausübung sexueller Gewalt einem Muster: Tutsi-Frauen mussten die Folter und Ermordung von Angehörigen miterleben, teilweise wurden sie auch selbst gezwungen Angehörige zu töten. Anschließend wurde ihr Haus zerstört und ihr Besitz geplündert, bevor sie vergewaltigt und in den meisten Fällen grausam ermordet wurden. Jene Frauen, die das Martyrium überlebten, berichteten, dass ihre Peiniger es als größere Strafe ansahen, sie in diesem Zustand am Leben zu lassen, als sie zu töten (3). Die Maximierung menschlichen Leids stand dabei oft im Mittelpunkt der Angriffe: Zahlreiche Frauen wurden mehrfach oder von Gruppen vergewaltigt, scharfe Gegenstände wurden zur Verletzung des weiblichen Körpers hinzugezogen, vielfach wurden ihre Genitalien verstümmelt oder sie wurden von den Milizen als Sex-Sklavinnen gehalten.

Überlebende litten und leiden bis heute aufgrund der Traumatisierung an psychischen Erkrankungen. Sie haben Angst vom Erlebten zu erzählen, da Peiniger und deren Angehörige Rache üben könnten. Diese Angst ist nicht unbegründet, kam es auch nach dem Genozid immer wieder zu Gewaltakten gegen Frauen, die das Schweigen brachen. Neben den psychischen gab es auch zahlreiche körperliche Erkrankungen: Verletzungen im Genitalbereich, sexuell-übertragbare Krankheiten (insbesondere HIV) oder Verletzungen von unprofessionell durchgeführten Abtreibungen. Da Schwangerschaftsabbruch in Ruanda gesetzlich verboten ist, brachten zwischen 2.000 und 5.000 Frauen ein Kind vom Peiniger zur Welt. Als wäre die Situation nicht schon schwierig genug, sahen sich viele Opfer sexueller Gewalt mit sozialem Abstieg und Armut konfrontiert, da sie als oft einzige Überlebende ihrer Familie das soziale Sicherheitsnetz verloren haben (4).
Die Radikalisierung des Hutu-Nationalismus führte dazu, dass Frauen nicht nur Opfer, sondern vereinzelt auch Täterinnen sexueller Gewalt waren. So gab es etwa innerhalb der Interahamwe-Miliz eine berühmt berüchtigte Frauengruppe, die Tutsi-Frauen sexuell folterten, bevor sie sie umbrachten (5). Obwohl solche Fälle eher die Ausnahme als die Regel sind, gab es dennoch radikale Hutu-Frauen, die zu Vergewaltigungen von jenen Tutsi-Frauen aufriefen, die mit Hutu verheiratet waren, da sie sich durch gemischte Ehen verraten und zurückgewiesen fühlten(6)./typo3/

Von kriegerischen Frauen.
Die Brutalität, mit der sich Frauen freiwillig am Genozid in Ruanda beteiligten, ist gut belegt. Offen bleibt, ob es sich hier um einen Sonderfall handelt, oder ob ein stärkeres Augenmerk auf Geschlechterverhältnisse im Genozid die Gewaltbereitschaft von Frauen offenlegte.
In Ruanda waren Frauen auf allen Ebenen am Völkermord beteiligt: Sie waren nicht nur direkt für Massaker und Folter verantwortlich, sondern auch auf höchster politischer Ebene involviert. So gilt etwa Agathe Habyarimana, die Ehefrau des verstorbenen Präsidenten, als eine treibende Kraft bei der Planung des Genozids. Pauline Nyiramasuhuko, Frauen- und Familienministerin, übernahm in der Provinz Butare die Logistik für die Milizen. Vor Gericht wurde sie auch schuldig gesprochen die Milizen aufgefordert zu haben, jede Tutsi-Frau vor dem Töten zu vergewaltigen. Auch als Journalistinnen waren Frauen beim radikalen Radiosender „Radio-Télévision Libre des Mille Collines“ aktiv, wo sie mit Hetze und der Veröffentlichung von Todeslisten zur Ausrottung der „Kakerlaken“, einem von radikalen Hutu verwendeten Synonym für Tutsi, aufriefen. Viele Vertriebene suchten Schutz in Kirchen und Klöster, oftmals vergebens, auch Ordensschwestern (und Priester) beteiligten sich am Völkermord. Mit Gesang trieben Frauen die Milizen an, sie versorgten sie mit Bier und Essen, verrieten ihnen wer in ihrem Ort Tutsi ist, plünderten von den Toten und lockten Tutsi-Kinder mit Zuckerrohr aus ihren Verstecken (7)./typo3/

Gefährliche Geschlechterrollen.
Gewalttätige Frauen, die sich systematisch an einem Völkermord beteiligen, ist kulturübergreifend eine schwer fassbare Vorstellung. Mythen vom kriegerischen Mann und der friedfertigen Frau gibt es in den meisten Kulturen. Gespeist werden sie von der Vorstellung, dass Frauen – synonym verstanden als Mütter – einen lebensspendenden Instinkt in sich haben, der im Widerspruch zur systematischen Vernichtung von Menschenleben steht.
Dieser Logik folgten auch Strafverteidiger*innen weiblicher Täterinnen in Ruanda, die argumentierten, dass Frauen und Mütter solche Verbrechen gar nicht begehen könnten (8). Auch wenn Frauen in allen bewaffneten Konflikten nicht im gleichen Maße wie Männer gewalttätig sind, zeigt sich doch, dass die Wahrnehmung von Frauen als das friedliche und „schwache“ Geschlecht nicht nur falsch, sondern auch gefährlich ist. Als Besitz von Vätern und Ehemännern definiert, wird der weibliche Körper zum erweiterten Schlachtfeld. Die Verfügungsgewalt über „seinen intimsten Besitz“, den Körper seiner Frau oder Tochter, dient der Demütigung und Traumatisierung des Gegners, aber auch seiner Kultur und Gesellschaft. Kurzum: im Krieg ist der weibliche Körper keine Privatangelegenheit.

Die Mythen rund um die Hypersexualität und Arroganz von Tutsi-Frauen haben sexuelle Gewalt noch zusätzlich forciert und demonstrieren, wie gefährlich soziale Konstrukte sein können. Opfer und Täter*innen, Frauen und Männer – die Rollen sind nicht starr – beide sind beides, wenn auch nicht im gleichen Maße oder auf dieselbe Weise.
„We must acknowledge that male and female are equally capable of acts of genocide, and we must be alert to it, expose it, and condemn it regardless of gender.“(9)

Die Autorin, Lydia Steinmassl, studierte Internationale Entwicklung und Politikwissenschaft und ist Redaktionsmitglied der GBW Wien.

/typo3/(1) Gallimore, Rangira Béa (2008): Militarism, Ethnicity and Sexual Violence in the Rwandan Genocide. In: Feminist Africa, Issue 10, S. 20.

/typo3/(2) Sharlach, Lisa (1999): Gender and genocide in Rwanda: women as agents and objects of genocide. In: Journal of Genocide Research, Nr. 1 (3), S. 394.

/typo3/(3) Human Rights Watch (1996): Shattered Lives. Sexual Violence during the Rwandan Genocide and its Aftermath. Online abrufbar: www.hrw.org/de/reports/1996/09/24/shattered-lives (letzter Zugriff: 9.6.2014).

/typo3/(4) Sharlach, Lisa (1999): Gender and genocide in Rwanda: women as agents and objects of genocide, S. 393.

/typo3/(5) Maier, Donna J. (2012-2013): Women Leaders in the Rwandan Genocide: When Women Choose To Kill. In: Universitas, Vol. 8. Online abrufbar: www.uni.edu/universitas/article/women-leaders-rwandan-genocide-when-women-choose-kill (letzter Zugriff: 9.6.2014).

/typo3/(6) Gallimore, Rangira Béa (2008): Militarism, Ethnicity and Sexual Violence in the Rwandan Genocide, S. 22.

/typo3/(7) Vgl. Maier, Donna J. (2012-2013): Women Leaders in the Rwandan Genocide, o.S.

/typo3/(8) Ebd.

/typo3/(9) Ebd.

Literatur.
Gallimore, Rangira Béa (2008): Militarism, Ethnicity and Sexual Violence in the Rwandan Genocide. In: Feminist Africa, Issue 10, S. 9-29.

Human Rights Watch (1996): Shattered Lives. Sexual Violence during the Rwandan Genocide and its Aftermath. Online abrufbar: www.hrw.org/de/reports/1996/09/24/shattered-lives (letzter Zugriff: 9.6.2014).

Maier, Donna J. (2012-2013): Women Leaders in the Rwandan Genocide: When Women Choose To Kill. In: Universitas, Vol. 8. Online abrufbar: www.uni.edu/universitas/article/women-leaders-rwandan-genocide-when-women-choose-kill (letzter Zugriff: 9.6.2014).

Sharlach, Lisa (1999): Gender and genocide in Rwanda: women as agents and objects of genocide. In: Journal of Genocide Research, Nr. 1 (3), S. 387-399.