Gentrifizierung zum Anfassen: ein Streifzug durch den 2. Bezirk.

GBW
Das etwas sperrige G-Wort.
„Wer hat noch nie von Gentrifizierung gehört?“ Während vor fünf Jahren wahrscheinlich die Mehrzahl aller Hände in die Luft geschnellt wäre, gibt es auf die einleitende Frage von Bettina Köhler heute nur eine vereinzelte Bejahung – ein Ausdruck für die wachsende Prominenz des Ausdrucks.
Der Begriff hat mittlerweile Einzug in Mainstream-Debatten gefunden und entspringt kritischen Debatten um Raum und Stadt. Gentrifizierung bedeutet die Aufwertung eines Stadtteils durch dessen Sanierung oder Umbau mit der Folge, dass einkommensschwächere durch wohlhabendere Bevölkerungsschichten verdrängt werden ? bei gleichzeitigem Anstieg des Wohnpreisniveaus.
Dennoch ist im Vergleich zu deutschen Großstädten in Wien lange Zeit keine Rede von Gentrifizierung gewesen. Zum Teil sei dies auf die langjährige soziale Wohnpolitik der Stadt zurückzuführen, so Köhler. Im Fokus heutiger Debatten in Wien stehen einige Bezirke: neben Ottakring auch der 2. Bezirk, die Leopoldstadt.
Attraktive Grünflächen, U-Bahn-Erweiterung und Stadterneuerungsgebiete.
Warum die Leopoldstadt die Aufmerksamkeit von Wiener Gentrifizierungsdebatten auf sich zieht, ist bei genauerer Betrachtung wenig verwunderlich. Der Bezirk ist in starke städtische Dynamiken eingebettet. Beliebt aufgrund seiner grünen Lungen, dem Augarten und dem Praterstern, ist er von riesigen Stadterneuerungsgebieten durchzogen. Die Erweiterung der U-Bahnlinie 2 hat zum weiteren Ausbau der öffentlichen Infrastruktur geführt, mit der Ansiedlung der Wirtschaftsuniversität und dem Umbau des Pratersterns ist eine bewusste ‚Attraktivierung‘ erfolgt.
Apropos bewusst – Köhler erläutert, dass die Veränderungsprozesse im 2. Bezirk nicht allein von Interessen wirtschaftlicher Akteur*innen bestimmt sind, sondern klar von politischen Entscheidungen gesteuert werden. So sei der Bezirk sowohl auf EU-Ebene als auch im städtischen Rahmen ein Ziel für aktuelle Stadtentwicklungsmaßnahmen der Politik.
Gentrifizierung hat viele Gesichter.
Die Vielseitigkeit der Auswirkungen dessen wird während des zweistündigen Stadtspaziergangs durch konkrete Beispiele greifbar.
Los geht’s bei der ehemaligen Pizzeria Anarchia in der Mühlfeldgasse 12, einem stadtbekannten Fall. Mit dem profitgesteuerten Plan einer „Bestandsfreimachung“ – übersetzt: Vertreibung bestehender Mietsparteien – der Sanierung und Umwandlung in Eigentumswohnungen kauften Investoren das Haus. Da Mieter*innen dieses nicht verlassen wollten, griff das Unternehmen zu Mitteln wie Schikanen und Sabotage und lud schließlich eine Gruppe von Punks dazu ein, das Erdgeschoss zu bewohnen und die Mietparteien zu vergraulen. Dieser Plan missglückte: Punks und Mieter*innen verbündeten sich und es gelang ihnen, die Problematik öffentlichkeitswirksam zu thematisieren. Die Geschichte nahm dennoch im Sommer 2014 ein trauriges Ende: Das Haus wurden unter enormem polizeilichen Aufwand geräumt, ist mittlerweile saniert und mit zwei Stockwerken aufgestockt.
Die Geschichte der Pizzeria verdeutlicht eine Praxis, die sich durch die Liberalisierung der Wiener Mietpolitik insbesondere seit den 1990er Jahren zunehmend verstärkt. Sanierungsbedürftige Häuser werden von Investitionsfirmen günstig gekauft, es erfolgt eine Bestandsfreimachung, völlige Entkernung und ein teurer Verkauf – häufig als Eigentumswohnungen. Gegenüber, in der Mühlfeldgasse 11, lässt sich Ähnliches beobachten. Derzeit findet die Entkernung des Hauses statt. Drei Mietparteien harren weiter aus, ein Bauarbeiter versichert: „In zwei Wochen sind die auch weg.“
Die zweite Station ist die Nordbahnstraße mit Blick auf das Gelände des ehemaligen Nordbahnhofes. „Hier war früher ein riesiger grüner Fleck“, erzählt Vera, eine langjährige Grätzelbewohnerin. Seit einigen Jahren Stadtentwicklungsgebiet werden hier bis 2025 10.000 Wohnungen gebaut und 25.000 Arbeitsplätze geschaffen. Der Wohnungsbau wird zum Teil von der Stadt Wien gefördert, eine Mischung aus Genossenschafts- und Eigentumswohnungen. Besonders kostengünstiges Wohnen will die Stadt hier ermöglichen. Tatsächlich sind die Quadratmeterpreise mit circa sechs bis acht Euro in Teilgebieten niedrig, nichtsdestotrotz werden hohe Eigenanteile verlangt.
Laut Stadtforscherin Köhler sei das Nordbahnhofgelände ein auf dem Papier geplantes Viertel, dessen Veränderungen für die Gegend sich erst in Zukunft abzeichnen werden.
In der Rueppgasse 30 erzählt Vera von der „sanften Sanierung“ des dortigen Hauses. Im Gegensatz zu Methoden à la Pizzeria konnten alle Mietparteien während der Sanierung in ihren Wohnungen bleiben. Die Gebliebenen haben bis heute unbefristete Mietverträge und weiterhin besteht das Haus vollständig aus Mietwohnungen. Vera ist mit dieser Situation zufrieden und lobt die Partizipationsmöglichkeiten der Bewohner*innen: „Nicht drüberfahren, sondern reden mit den Leuten. Dann geht’s.“
Grätzelmanagement als Pilotprojekt.
Die Strategie des „Drüberredens“ wurde auch im Pilotprojekt Grätzelmanagement am Volkertplatz verfolgt. Eine engagierte Anrainerin erzählt, dass es gelungen ist, Bewohner*innen an baulichen und sozialen Veränderungen partizipieren zu lassen. So sei das Grätzel auf unterschiedlichsten Ebenen belebt worden: durch Veränderungen von Verkehrsinfrastrukturen, beispielsweise verkehrsberuhigten Zonen, dem Entstehen einer Grätzelzeitung, Lesungen, Ausflügen und einem jährlichen Ball.
„Sollen wir den Spaziergang in der ‚Automat-Welt‘ ausklingen lassen?“, fragt Köhler. Alle schmunzeln beim Blick auf das Bobo-Café an der Ecke des Volkertplatzes – auch ein Zeichen urbaner Veränderungen. Schön ist's ja ...
Die Autorin Marlene Illers hat in Wien und Montevideo Politikwissenschaften und Internationale Entwicklung studiert und ist Mitglied im Redaktionsteam der GBW Wien.