Gesundheitssystem: Kritische Diagnosen.
Das Veranstaltungsthema ist zugleich der Titel eines brisanten Buches, das letztes Jahr im Planet Verlag erschienen ist. Als Herausgeber fungierte Kurt Grünewald.
Mit dem Buch in der Hand eröffnet nun Moderator Oswald Kuppelwieser von der GBW Wien die Diskussionsrunde in der Esterhazygasse 21: „Ist unser Gesundheitssystem wirklich so schlecht, dass wir von Krankenberichten sprechen müssen?“
Bildung und Einkommen.
„Unser Gesundheitssystem ist nicht krank“, relativiert Grünewald den provokanten Befund. „Aber es gibt Defizite bei Teilhabe und Versorgung.“ Wie oft und wie früh jemand erkrankt oder stirbt hänge nachweislich von zwei Hauptfaktoren ab: „Bildung und Einkommen.“ Vor allem Arbeitslose, von Armut Betroffene und Migrant*innen seien häufiger krank. „Und im 15. Bezirk sterben die Menschen früher als im 18.“, ergänzt ein statistikkundiger Allgemeinmediziner im Publikum.
Meldezettel entscheidet über Versorgung.
„Unser Gesundheitssystem ist zersplittert in Zuständigkeiten“, kritisiert Grünewald. Die Länder hätten viel Macht, der Minister wenig. „Der Meldezettel entscheidet über die Leistung.“ Ferner herrsche bei den unterschiedlichen Krankenkassen Ungleichbehandlung gegenüber den Versicherten. Hauptanliegen sei es daher, mit dem Buch die Bedeutung von Gesundheit zu forcieren. Denn: „Acht Millionen Menschen sind vom Neusiedlersee bis zum Bodensee von unterschiedlichen Versorgungsqualitäten betroffen. Diese Menschen sollen bei einem Gesundheitssystem mit einem Volumen von 34 Milliarden Euro die gleichen Rechte haben.“
Einsparen. Ökonomisieren. Rationieren.
Die ausgebildete Psychotherapeutin und Gesundheitspsychologin Eva Mückstein bedankt sich bei Grünewald für „dieses schöne Buch.“ Mit dem Beitrag „Psychisch Kranke zwischen Tabu und Zwei-Klassen-Medizin“ ist die neue Grüne Gesundheitssprecherin darin selbst vertreten. Hauptprobleme im Gesundheitssystem verortet sie im „steigenden Finanzierungsdruck der nächsten Jahre“. Aufgrund zunehmender Ökonomisierung und Rationierung von Leistungen befürchtet Mückstein große Einschnitte: „Wer bekommt eine neue Hüfte, wer nicht?“
Die Grünen seien gegen eine Zwei-Klassen-Medizin. Leistungen sollten grundsätzlich allen zustehen: „Wir hätten gerne ein demokratischeres Gesundheitssystem, in dem Menschen teilhaben und mitreden können.“ Gerade in der Psychotherapie gebe es noch immer keine ausreichende Kassenfinanzierung, beklagt Mückstein. Insbesondere in der Kinderrehabilitation, bei Physio-, Logo-, Ergotherapie zähle jede Woche, um Entwicklungsdefizite auszugleichen. Drei bis vier Monate würden Kinder heute im Schnitt auf einen stationären Therapieplatz warten, ergänzt Grünewald. Im niedergelassen Bereich sogar sechs Monate. Die Folgekosten unbehandelter oder zu spät behandelter psychischer Erkrankungen seien enorm. Auch bei Erwachsenen: „Über 50 Prozent der Frühpensionierungen gehen auf psychische Erkrankungen zurück.“
Politische Kindermedizin.
Der Verein „Politische Kindermedizin“ ist eine Plattform engagierter Kinder- und Jugendmediziner*innen sowie anderer Berufsgruppen im Kinder- und Jugendbereich. Sie alle setzen sich auf politischer Ebene für gerechte Ressourcenverteilung, optimale medizinische Versorgung und kostenlosen Zugang zu notwendigen Therapien ein. „Pro Kopf und Kind wird nämlich zum Beispiel in Deutschland das Drei- bis Vierfache für Logo-, Psycho- und Ergotherapien ausgegeben als in Österreich“, sagt Grünewald. Auch innerhalb Österreichs gibt es „unerträgliche Unterschiede“. So gebe beispielsweise Vorarlberg zwei- bis dreimal so viel aus wie andere Bundesländer. Und das nicht, weil die Kinder in Vorarlberg kränker seien. Viele Therapien für Kinder würden abgelehnt mit der Begründung „keine Heilbehandlung“. Dabei seien Herzinfarkt und Epilepsie auch keine Heilbehandlung, würden aber im Gegensatz zu Kindertherapien problemlos behandelt und bezahlt.
Nadelöhrpolitik – Steuern von Patient*innenströmen.
Kontingentierung beziehungsweise Rationieren von Leistungen führe zu Ungleichbehandlung und längeren Wartezeiten, sagt Mückstein. So würde der Zugang zum Gesundheitssystem eingeschränkt und Patient*innenströme von den Krankenkassen gesteuert. „Rationierung gibt es beispielsweise bei CT und MRT“, sagt die Expertin. „Aber auch bei Psychotherapien werden von den Krankenkassen Behandlungskontingente vergeben. Statt Gleichberechtigung müssen sich viele Menschen Leistungen zukaufen.“ Doch nicht alle können sich das leisten. „Über zwei Drittel der Patient*innen müssen bei einer Psychotherapie zuzahlen“, präzisiert Grünewald.
Auch würden beispielsweise OP-Termine rascher vergeben, wenn Patient*innen zuerst als Selbstzahlende in der Privatordination waren.
Sterbehilfe und Palliativmedizin.
Befragt zum ethisch umstrittenen Thema der Sterbehilfe, sagt Mückstein: „Wir brauchen in Österreich einen offenen Diskurs über Sterbehilfe.“ Einen Grundkonsens zu diesem Thema solle man nicht aus anderen Ländern, wie zum Beispiel der Schweiz, Belgien oder den Niederlanden übernehmen. Denn Haltungen und Einstellungen müsse man durch eine breite, öffentliche Diskussion selbst entwickeln. Dazu will Mückstein Veranstaltungen machen, das Thema auch im Parlament diskutieren.
Sterbehilfe solle aber nicht in Verfassungsrang. Die Grünen seien gegen ein Verbot der Tötung auf Verlangen und für ein Recht auf ein Sterben in Würde.
Ferner sollten Palliativmedizin und Hospizwesen weiterentwickelt werden. Das meint auch Grünewald. Aber: „Wie ich sterben will, soll der Staat nicht vorschreiben.“
Patientenverfügung.
Nach eigenen Vorstellungen und würdevoller sterben können Menschen mit einer Patientenverfügung. Doch nur zwei Prozent der Österreicher*innen hätten eine, weiß ein Mediziner im Publikum. Das Thema werde in den meisten Familien so lange verdrängt, bis es einen Pflegefall gebe. Auch sei die notarielle Patientenverfügung mit gewissen Kosten verbunden. Bei der Patientenanwaltschaft koste sie aber fast nichts. Auch gebe es dort kompetente Beratung und Vorformulierungen.
„Die Patientenverfügung muss rechtlich gut abgesichert sein, darf aber nicht zu bürokratisch oder teuer sein, weil sie sonst nicht in Anspruch genommen wird“, sagt Grünewald. „Die Grünen wollten sie immer kostenlos.“ Um die Verfügung im Bedarfsfall parat zu haben, könnte sie etwa auf der E-Card gespeichert werden.
Verhältnisse ändern, nicht Verhalten!
„Wer krank ist, ist selbst schuld, hört man immer wieder von der ÖVP“, sagt Grünewald. Das stimmt aber meistens nicht. „Gerechtigkeit fängt an, wenn wir Verhältnisse ändern und nicht den Menschen ihr Verhalten anlasten.“ Bessere Verhältnisse bei Einkommen und Bildung, am Arbeitsplatz sowie in der Umwelt würden ein gesünderes und stressfreieres Leben ermöglichen. Prävention sei primär ein Programm für die Oberschicht: „Gesundes Essen, biologische Lebensmittel und Fitnesscenter kosten Geld.“
Wirklich zu viele Krankenkassen?
Oft wird Kritik laut, die vielen, unterschiedlichen Krankenkassen mit ihren vielen, gutbezahlten Funktionären seien zu teuer. Doch laut Grünewald seien die Kassen in ihren Strukturen eher schlank. Daher könne man dort nicht so viel einsparen. Sein Wunsch für die diversen Kassen lautet: „Harmonisierung bei Beiträgen und Leistungen.“
Ziele der Gesundheitsreform.
Sollten laut Grünewald sein: „Spitäler entlasten und den niedergelassenen Bereich stärken.“ Dazu brauche es aber mehr Geld, zum Beispiel für neue Kassenstellen. „Es soll mehr Kassen- als Wahlärzte geben!“
In der Ausbildung gehörten Rheumatologie und Orthopädie als Pflichtfächer verankert. Und auch das Honorarsystem der Ärzt*innen müsse vielfach angepasst werden.
Wichtig wäre auch, punktuell spezialisierte Schwerpunktspitäler zu haben, statt zwar das volle Leistungsspektrum, dafür aber in streitbarer Qualität vor der Haustüre anzubieten. „Denn wer nimmt nicht lieber 50 Kilometer Anreise in Kauf, wenn er dadurch eine 60-prozentig höhere Wahrscheinlichkeit hat, dass die OP gelingt?“ Mit zustimmendem Nicken im Publikum geht die Veranstaltung zu Ende. Sie fand in Kooperation von GBW Wien und ISG (Initiative Grüner SeniorInnen) statt.
Ao. Univ.-Prof. Dr. Kurt Grünewald ist heute Obmann der Grünen Bildungswerkstatt Tirol. Er arbeitete als Internist und Facharzt für Hämato-Onkologie an der Uniklinik Innsbruck und war Vorsitzender der Bundeskonferenz des wissenschaftlichen Personals. Seit 1999 war er für die Grünen als Gesundheits- und Wissenschaftssprecher im Nationalrat.
Die Autorin, Karina Böhm, hat Sozial- und Wirtschafswissenschaften studiert und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.
Links.
Buch: „Kritische Diagnosen. Krankenberichte zum Gesundheitssystem“
Politische Kindermedizin
Wiener Patientenanwaltschaft