Goethes „Velozifer“ oder: Beschleunigung als alter Hut?
Von Julia Seewald
Beschleunigung ist nichts Neues!
Doch sind die Beschleunigung und Technologisierung unseres Lebens tatsächlich so neue Phänomene? Wenn wir J. W. Goethes Eindruck in Betracht ziehen, welchen er 1825 seinem Freund C. F. Zelter in einem Brief schilderte, kommen unleugbare Parallelen zur heutigen Zeit zum Vorschein:
„alles aber, mein Teuerster, ist jetzt ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff den er bearbeitet. […] Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. […]Lass uns soviel als möglich an der Gesinnung halten in der wir herankamen, wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten sein einer Epoche die sobald nicht wiederkehrt.“
Goethe beschäftigte sich in vielen seiner Schriften kritisch mit dem Phänomen der Beschleunigung und den technologischen Innovationen seiner Zeit. Seine Lebenszeit (1749-1832) war von einer damals undenkbar schnellen Modernisierung gekennzeichnet - wirtschaftlich, politisch und technologisch. Die Französische Revolution, die Erfindung der Dampfmaschine und die Einführung des Bewegungskrieges sowie ‚schneller Politik‘ durch Napoleon prägten den sogenannten Zeitgeist.
Vom Fluch der „Zauberblätter“ und dem Veloziferischen
Vor allem die zunehmende Abstraktion der Ökonomie von materiellen Werten und die gesellschaftlichen Folgen der Geldwirtschaft bereiteten Goethe Kopfzerbrechen. Den „Zauberblättern“ (Papiergeld), welche die ständige Wertschöpfung notwendig machten und auf Grund ihrer Entkoppelung von realen Werten „Segen und Fluch zugleich“ seien, stand er äußerst skeptisch gegenüber. Ein wenig bekanntes Detail aus Goethes Leben ist seine zehnjährige Tätigkeit als Finanzminister am Weimarer Hof und seine eingehende Analyse der Ökonomie. Der zweite Teil seines Hauptwerkes Faust, der leider dem ersten in Bekanntheit nachsteht, befasst sich mit den negativen Auswirkungen von Beschleunigung auf Ökonomie und Gesellschaft, dem verhängnisvollen Streben nach Wachstum und der zunehmenden Fixierung auf die Zukunft.
Natürlich begrüßte er in mancherlei Hinsicht die alltäglichen Erleichterungen, die mit diesem „Fortschritt“ einhergingen, er empfand jedoch überwiegend großes Unbehagen gegenüber diesen Entwicklungen. Hierfür kreierte er den Neologismus „Velozifer“ frei übersetzt: die teuflische Geschwindigkeit. Und auch im Drama ist es Mephisto, welcher Faust zur Beschleunigung, zur schnellen Liebe und zum schnellen Geld anstiftet. Goethe und später auf ihn rekurrierend Nietzsche und Kafka, haben geradezu vorahnend festgestellt:
„Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen […] Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.“(Brief Goethes aus 1778)
„Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten.“(aus Nietzsches „Menschliches, Allzumenschliches“)
„Es ist Ungeduld, die den Menschen aus dem Paradies vertrieb und ihn daraus immer weiter entfernt.“ (Tagebucheintrag Kafkas nach einem Besuch im Goethe-Haus)
Goethe als erster global denkender Unternehmer
Nun kann Goethe ein gewisser Konservatismus oder Technologiefeindlichkeit vorgeworfen werden, gar ein „Stabilitätsnarr“ genannt werden wie dies Heinrich Heine gerne tat, aber er erkannte, dass mit den rasenden Entwicklungen seiner Zeit so manche Gefahr einherging. Diese Erkenntnisse sind heute aktueller denn je! Wo Goethe von „Zauberblättern“ spricht, sprechen wir von abstrakten Finanztiteln, welche Bedingungen von Raum und Zeit sowie materielle Rückkoppelungen der Werte hinter sich lassen. H.C. Binswanger, bekannter Wirtschaftsprofessor und Goethe Interpret, bezeichnet Goethe gar als „den ersten global denkenden Unternehmer“. Er meint, dass Goethe „die moderne Wirtschaft, in der die Papiergeldschöpfung eine zentrale Rolle spielt, als eine Fortsetzung der Alchemie mit anderen Mitteln darstellt, dass die Papiergeldschöpfung einen gewissen magischen Charakter hat.“ Mit der Einführung des Papiergeldes sei der Traum in Erfüllung gegangen, unendlich viel Gold herzustellen.
Die Entkoppelung der Währungen vom Goldstandard Mitte der 1970er Jahre ließ monetäre Werte noch abstrakter werden und löste die Wertschöpfung scheinbar endgültig von natürlichen Grenzen ab. Im Faustdrama ist es Mephisto, der Faust auf die Idee bringt, dem Kaiser die Papiergeldschöpfung als Ausweg aus der Krise vorzuschlagen. Die US-amerikanische FED kam in der aktuellen Krise ohne Zutun des Teufels auf dieselbe Idee. Die Zunahme von Buchgeld1und sekundenschnellen Finanztransaktionen hebt dieses Phänomen auf die nächste Ebene. Laut Binswanger gibt es einen Überfluss an Geld, Investor*innen und Unternehmer*innen wissen nicht mehr, wofür das Kapital eingesetzt werden soll. Es besteht die Notwendigkeit zur Produktion immer mehr unnötiger Luxusgüter, welche die Schaffung neuer Bedürfnisse bei den Konsument*innen nach sich zieht. Gleichzeitig greift in anderen Teilen der Bevölkerung und Erde immer größere Armut um sich. Eine paradoxe und fast schon makabre Entwicklung.
Übereilung, stellte Goethe fest, geht mit Irrtum und Gewalt einher und bezeichnete sie als Konstanten der menschlichen Historie. Im Faustdrama bringt das initiierte Wachstum durch Geldschöpfung nackte Gewalt, Gier und Geiz mit auf die Bühne. Auch die Sorge, welche Heidegger in Sein und Zeit wieder aufgreifen wird, erkennt Goethe als ein Phänomen der Moderne. Die Sorge als Personifikation einer fanatisch in die Zukunft orientierten Gesellschaft, welcher die Fähigkeit zum Verweilen, Besinnen und damit Genießen und kreativer Schöpfung abhandenkommt.
Haben Goethes Analysen einen aktuellen Wert?
Beschleunigung und zunehmende Technologisierung sind also tatsächlich nicht so neu wie oft vermittelt. Goethes Lebenszeit stellte sozusagen den Startschuss einer seither exponentiell zunehmenden Entwicklung dar. Insofern sind Beschleunigung, Modernisierung und Wachstum fast schon ein alter Hut. Trotzdem bleibt eine notwendige Reaktion auf dieses gefährliche Phänomen von Seiten der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft immer noch aus, wie auch Elmar Altvater bedauert.
Dass Goethe sich Social Media, Flugverkehr, und abstrakte Finanztransaktionen nicht in seinen schlimmsten Alpträumen ausmalen hätte können, ist klar, seine scharfsinnigen Analysen haben jedoch nichts an Aktualität verloren.
Die Frage, die wir uns dringend stellen müssen, ist, wie lange die Natur, unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft und die einzelnen Menschen diese exponentielle Beschleunigung und das damit verbundene Wachstum noch ertragen können? Warnzeichen für eine Überforderung des Systems gibt es bereits zu Genüge: Wirtschaftskrise, Klimakrise, Peak Everything und Burn Out als neue Volkskrankheit.
Angesichts dessen wäre es vielleicht angebracht, Inne zu halten, zu reflektieren und sich auf die wichtigen Dinge im Leben zu besinnen. Denn Leben haben wir trotz aller technischen Errungenschaften immer noch nur eines - zwar ein meist längeres als Goethes Generation, jedoch auch ein umso schnelleres, flüchtigeres.
Julia Seewald hat Politikwissenschaften studiert und ist Vorstandsmitglied der GBW Wien.
Links und weiterführende Informationen:
- Süddeutsche Interview mit H.C. Binswanger
- FAZ Interview mit H.C. Binswanger und J. Ackermann
- Die Zeit Goethe-Special
- Ein Essay zur Aktualität Goethes von Manfred Osten
- Online Bibliothek zu Goethe Literatur
- Osten, Manfred (2003): »Alles veloziferisch« oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit: Zur Modernität eines Klassikers im 21. Jahrhundert. Insel Verlag
- Binswanger, Hans Christoph (2009): Geld und Magie. Eine ökonomische Deutung von Goethes Faust. Murmann Verlag
(1)Geld das nur auf dem Papier besteht und nicht einmal in Form von Geldscheinen rückgedeckt ist; Schätzungen zu Folge macht es mittlerweile 90% der gesamten Geldmenge aus.