Grätzl, Wachstum, Klima.

GBW
Entspannt ist die Atmosphäre im Café Mayer am Dienstag Abend. Der offizielle Betrieb, das Tagesgeschäft ist um 19 Uhr vorüber und nun kommen Interessierte, viele aus dem Grätzl Gersthof, um Professor Ulrich Brand zu hören. Silvia Nossek, Spitzenkandidatin und Bezirkssprecherin der Währinger Grünen begrüßt Podium und Zuhörende zu dieser gemeinsamen Veranstaltung mit der Grünen Bildungswerkstatt.
Ein Professor als „bunter Hund“.
Die Einladung kündigt den in Gersthof lebenden Deutschen als „bunten Hund“ an. Der kritische Geist fällt außer in der Wissenschaft auch auf Protesten gegen die Macht der Konzerne und Finanzmärkte auf. Eine Seltenheit im konservativen, akademischen Betrieb. Daher die erste Frage von Andreas Novy, Obmann der Grünen Bildungswerkstatt und einst 18 Jahre Bezirksrat in Währing: „Wie vereinbart man politisches Engagement mit einer wissenschaftlichen Karriere?“
Er habe nie auf eine akademische Karriere hingearbeitet, sagt Brand. „Ich wollte nicht Professor werden.“ Als Kind einer Arbeiterfamilie habe er zuerst Hotelfach gelernt. Erst später studierte er in Frankfurt am Main Politikwissenschaft. Schließlich ging er mit einem Stipendium nach Argentinien und habe dort neoliberale Wirtschaftspolitik hautnah miterlebt: „Das war eine tiefe Erfahrung.“ Seine Dissertation schrieb er zu globalen Umweltfragen. Nach einer Assistenzstelle in Kassel und der Habilitation war er der Besetzungskommission in Berlin für die Nachfolge Elmar Altvaters „zu links“. An der Uni Wien habe es dann aber mit der Professur für Internationale Politik geklappt. „Aus dem Wissenschaftsbetrieb kommt keine Veränderung“, konstatiert Brand. Die komme aus der Gesellschaft. „Ich will im Handgemenge sein!“
„Glokales“ und Grätzlbudget.
Sein Thema sei das „Glokale“, erklärt Brand. Globalisierung solle nicht über unseren Köpfen stattfinden, sondern im Lokalen. Derzeit betreue er zwei Wissenschaftsprojekte, die dem Rechnung trügen: eines zu urbaner Landwirtschaft und Gemeinschaftsgärten, das zweite zu Gewerkschaften. Gesellschaftliche Veränderung komme immer von den „Rändern“, sagt Brand. Ränder heißt: „Experimentierräume haben, zum Beispiel Gemeinschaftsgärten.“
Von der Bezirkspolitik solle es zum Experimentieren und Ausprobieren ein Grätzlbudget geben, wünscht sich Nossek; und bei Anrainer*innen-Befragungen keine Ja-Nein-Fragen, sondern Raum und Zeit für Diskussionen.
Grätzl der Zukunft.
„Wie schaut für dich sozialökologisch gesehen das Grätzl der Zukunft aus?“, fragt Novy. Brand verweist auf Harald Welzer und dessen richtig formulierte Frage: „Wie werden wir 2050 auf 2030 blicken und was müssen wir dafür 2014 gemacht haben?“ Eine Vision Brands lautet: „Wien muss autofrei werden!“ Auch bei der Ernährung fordert er einen Kulturwandel: „Wie kommen wir vom ‚Menschenrecht aufs tägliche Schnitzel’ weg?“ Der umtriebige Professor spricht von „ressourcenleichten Wohlstandsmodellen“, nicht von Verboten. Er verweist auf seine jungen Studierenden im zweiten Semester, die bereits zu einem Drittel vegetarisch lebten. „Alternativen müssen für die Menschen erfahrbar und erlebbar sein“, sagt er. Währing sei hier ganz gut aufgestellt. Durch noch vorhandenes Kleingewerbe, Märkte und autofreie Zonen wie den Kutschkermarkt, seien kurze Wege und ressourcenleichter Wohlstand im Grätzl erlebbar.
Ökonomie versus Ökologie?
Aus dem Publikum kommt die Frage, wie im sozialökologischen Umbruch, in der „Transformation“ Ökonomie und Ökologie zusammengingen. So würden unter autofreien Städten in der Autoindustrie Beschäftigte leiden, weil sie ihre Jobs verlören. Brand sagt: „Die Transformation darf nicht auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden!“ Auch dürfe man Ökonomie und Ökologie nicht gegeneinander ausspielen, sondern müsse beides stets zusammendenken. Das Einbeziehen der Gewerkschaften sei hier wichtig, aber auch Alternativen zur bisherigen Erwerbsarbeitswelt. Brand spricht von Arbeitszeitverkürzung, Umverteilung der Arbeit, Lohnausgleich und politischer Gestaltbarkeit.
Es sei unbestritten, dass Wachstumsraten weiter abnähmen und Ressourcen knapper würden. Entgegen der Meinung vieler löse Wachstum aber ohnedies keine Probleme. Junge Menschen in den 20ern, die heutigen Krisenopfer, hätten das längst begriffen. Sie fordern etwas anderes als Wachstum. Von Parteien und Gewerkschaft fühlten sich die wachstumskritischen Jungen nicht mehr vertreten, da diese den Status Quo verteidigen, sagt Brand.
Die Transformation sei eine Frage der Beziehung der Menschen zur Stadt, meint Brand. So ginge es etwa den Gemeinschaftsgärtner*innen gar nicht so sehr um die Gemüseernte, sondern vielmehr um kollektives Beisammensein und Gemeinschaftsgefühl.
Recht auf Stadt und Garagenbau.
Als er vor sieben Jahren nach Wien kam, seien die Mieten hier günstig gewesen, verglichen mit anderen Städten mit hoher Lebensqualität, sagt Brand. Das habe sich in den letzten Jahren geändert: „Wenn die Mieten hochgehen und die Menschen sich Wohnraum nicht mehr leisten können, hat die Politik versagt.“ Die „Recht auf Stadt“-Bewegung erkläre sich mit von Zwangsräumung Bedrohten solidarisch, indem sie Räumungen durch Präsenz zu verhindern versucht.
„Mieten und Leerstand werden die Politik bald sehr stark beschäftigen“, ist Brand überzeugt. Die Politik dürfe die Stadt nicht komplett an Investoren ausliefern.
In Innerwähring würden zuletzt immer mehr grüne Innenhöfe für Garagen unterbaut, weil es kein Parkpickerl gibt, erklärt Nossek. Das sei teuer, rechne sich nicht und Bäume würden für immer verschwinden. Außerdem stehe es der Vision vom autofreien Wien entgegen. „Was machen wir dann 2050 mit den Garagen?“, fragt eine Frau.
Klima.
Am Schluss kommt Brand noch kurz aufs Klima zu sprechen: Es sei wichtig und effektiv, vor Ort und in den einzelnen Ländern damit anzufangen, Energie, Transport und Ernährungsweisen umzustellen. „Unabhängig vom Zwei-Grad-Ziel.“
Die Autorin, Karina Böhm, hat Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Wien und São Paulo studiert. Sie ist Chefin vom Dienst und Mitglied des GBW-Redaktionsteams.
Links.
Recht auf Stadt
Petition: Leerstand öffnen und Leerstandmelder
Ulrich Brand