Griechenland: Die Suche nach Bewegungsräumen.
Von Euphorie zur Enttäuschung.
Die Euphorie war groß nach dem überragenden Wahlsieg von Syriza im Januar 2015 – nicht nur in Griechenland. Auch in anderen europäischen Ländern stand der Sieg der „Koalition der radikalen Linken“ für Hoffnung auf Wandel. Syriza forderte in ihrem Programm vehement ein Ende jener Politik, welche die Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) Griechenland seit 2010 als Gegenleistung für Hilfskredite auferlegt. Der Wählerwille setzte damit ein deutliches Zeichen gegen Austerität und soziale Kürzungen.
Viele hofften, dass dieser „griechische Frühling“ eine Kehrtwende einläutete: Eine Abkehr vom Neoliberalismus hin zu einer solidarischen und sozialen Politik in Griechenland und der EU.
Diese Hoffnung wurde am 13. Juli bitter enttäuscht. Die Regierung musste die Vereinbarungen des Euro-Gipfels akzeptieren: Neues und dringend benötigtes Geld gibt es nur bei Haushaltskürzungen, Privatisierungen und anderen Maßnahmen aus dem neoliberalen Handbuch. Nur wenige Tage davor hatten die Griech*innen in einem Referendum diese sozial und wirtschaftlich desaströse Politik abgelehnt. Jetzt zeigte das Verhandlungsergebnis: Die Kräfteverhältnisse und die Strukturen und Verträge in der EU lassen kaum Handlungsräume für linke Regierungen zu. Ein Regierungswechsel bedeutet noch lange keinen Politikwechsel.
Was bedeutet dies für eine Politik, die Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus entwickeln will? In welchem Verhältnis stehen die verschiedenen politischen Ebenen miteinander? Welche Handlungsräume lassen sich in den EU-Institutionen, in den Staatsapparaten und auf den Straßen, Plätzen und in Nachbar*innenschaften für eine sozialere und demokratischere Politik öffnen?
Soziale Bewegungen und Parteien – ein Spannungsverhältnis.
Die Ermordung des 15-jährigen Alexis Grigoropoulos 2008 durch einen Polizisten startete radikale und intensive soziale Kämpfe und organisierte die griechische Zivilgesellschaft, die sich schnell gegen die neoliberale Krisenpolitik wendete: Generalstreiks, Massenproteste und die Besetzung des Syntagma Platzes vor dem Parlament im Mai 2011 zeigten den breiten Widerstand gegen die aufgezwungene Kürzungs- und Sparpolitik. Eine Vielzahl an Basisinitiativen begegnete den Krisenauswirkungen und versuchte eine andere, solidarische Gesellschaft aufzubauen: Besetzte Fabriken und Wohnhäuser, solidarische Kliniken, Essensküchen und organisierte Nachbar*innenschaften standen für Widerstand und Alternativen von unten. Diese breite gesellschaftliche Organisierung erlitt jedoch ab 2012 einen Abschwung, während Syriza sich in diesem Jahr von einem Wahlbündnis zur Partei formte.
„Ist Syriza schuld an dem Abschwung der Bewegungen oder ist der Aufschwung von Syriza eher der Hoffnungslosigkeit geschuldet, dass trotz starker Bewegungen kein grundsätzlicher Wandel bewerkstelligt wurde?“ Die Wechselwirkung zwischen Partei und Bewegungen war eine der Hauptfragen bei der einführenden Podiumsdiskussion der Konferenz des International Networks of Urban Research and Action (INURA) (2) in Athen.
„Anstatt Handlungsräume für Bewegungen auszubauen, hat Syriza vermittelt: Gebt uns eure Stimme und wir erledigen das für euch.“ Damit habe sie soziale Bewegungen geschwächt, Menschen eher passiv gestellt als aktiviert, so ein Podiumsdiskutant.
Auch der deutsche Politikwissenschaftler Thomas Sablowski kritisiert in einem Artikel in der Jungen Welt diese strategische Ausrichtung von Syriza und der von ihr gestellten griechischen Regierung: Sie habe zu viel auf Verhandlungen und gute Argumente gesetzt und dabei gesellschaftliche Mobilisierung und Widerstand auf der Straße vernachlässigt, ohne die Transformationsprozesse nicht möglich seien (3).
Andere in der Podiumsdiskussion stellten heraus, dass der Regierungswechsel die letzte Hoffnung auf Veränderung war. Die Macht Syrizas läge darin begründet, dass alle anderen Wege unmöglich gemacht worden seien.
Deutlich wird: Klare Antworten fallen schwer. „Jetzt ist die Zeit der Debatte“, denn vielen Fragen stünden im Raum, so eine Organisatorin von INURA Athen. Die rasanten Entwicklungen im letzten halben Jahr und die rechtlichen und politischen Veränderungen aufgrund von Auflagen der Troika verdeutlichten eine politische Raum-Zeit-Verdichtung. „Partizipation und Demokratie brauchen aber Zeit und Raum“, erläutert sie. Die Krisenpolitik der Troika lehne Demokratie offen ab. Damit stelle sich die Frage: „Wo ist nun der Raum für alternative Politiken?“
Geringe Spielräume? Widerstand auf allen Ebenen!
Die von Deutschland dominierte europäische Politik lässt keine nationalen Alternativen zu, die neoliberalen Grundvorstellungen widersprechen. Dies ist die eindrückliche und disziplinierende Botschaft der letzten Monate nicht nur an Griechenland, sondern vor allem auch an Frankreich und andere Länder, die die Haushaltsdisziplin lockern wollen. Eine soziale und demokratische Politik – und Syrizas Programm war noch nicht einmal radikal, sondern genuin sozialdemokratisch – ist also ohne grundsätzliche Veränderungen der Kräfteverhältnisse in der EU und ihren Grundstrukturen und Logiken kaum möglich. Bis dahin hat eine linke Regierung nur geringe Gestaltungsspielräume. Die Austeritätspolitik kann sozialer ausgestaltet werden, genau mit dieser Hoffnung und mit diesem Realitätssinn ist Syriza im September wiedergewählt worden.
Eine grundlegend andere Basis von Politik und Ökonomie können aber nur soziale Bewegungen schaffen, wie etwa Initiativen solidarischer Ökonomie, die Abhängigkeiten von Marktlogiken verringern. Ob staatliche Politiken diese behindern oder ihre Handlungsmacht stärken, spielt damit eine entscheidende Rolle. Dass Syriza diese „neue Form des Regierens“ – Stärkung der Mitbestimmung und alternativer Organisierung – unterstützt, wird jedoch aufgrund der vergangenen Monate in Zweifel gezogen. Für die Teilnehmer*innen der Podiumsdiskussion ist dies jedoch Voraussetzung für einen grundlegenden sozialen und politischen Wandel.
Deutlich wird: Es braucht in Europa Widerstand und eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse auf allen Ebenen. Dies bedeutet vor allem, gegen die neoliberale EU-Politik anzutreten, die demokratische Räume enorm beschneidet und alternative Politiken verunmöglicht. Dies wäre nicht nur ein Zeichen der Solidarität mit progressiven Kräften in Griechenland, es könnte auch Handlungsräume öffnen und Basisorganisierung Raum und Zeit verschaffen. Denn eine Veränderung ohne „Behauptung unserer eigenen Zeit“, so ein Gast der Podiumsdiskussion, kann kaum ein Mehr an Mitbestimmung und solidarischer Politik schaffen.
Der Autor, Raphael Kiczka, forscht und lehrt zu Themen der Stadtentwicklung und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.
(1) Der Autor war im Juli/August im Rahmen der INURA Konferenz „Transformative urban politics. How can we?“ für zehn Tage in Athen und konnte so viele Gespräche mit Initiativen, Aktivist*innen und Forscher*innen über Situation und Perspektiven in Griechenland führen.
Zum Konferenzprogramm
(2) Homepage des INURA-Netzwerks
(3) Sablowski, Thomas: Die Etappenschlappe. In: Junge Welt, 18.7.2015
Einen vielfältigen Einblick in die Debatte bietet das Dossier der Tageszeitung „Neues Deutschland“: „Deutsch-Europa gegen SYRIZA. # This Is A Coup.“