Hans Christian Voigt - Das Mediensystem vom Kopf auf die Füße gestellt
[Anm: Das Handout, das einen Überblick über diesen Text verschafft, kann als
„Ein triales System, das diesen Namen auch verdient“ und eine „Neuorganisation des Mediensystems als grundlegende Revolution“, das habe ich im Vorfeld dieses Masterplans angekündigt und soll hiermit eingelöst werden. Was ich dazu als Modell einer solchen Neuorganisation auszubreiten habe, hat den Charakter einer Skizze und ist in der Form einer Utopie verfasst. Um eine Skizze handelt es sich insofern, als der Entwurf hier erstmals vorgestellt wird. Er ist nicht als abgeschlossen zu betrachten. Feedback beschränkt sich bislang auf Einzelgespräche in der Konzeptionsphase, die freilich wertvolle Einwände, Vorschläge, Anregungen gebracht haben (siehe Danksagung). Skizzencharakter haftet der Utopie außerdem an, weil einige Aspekte und Details vorerst ausgespart bleiben, die in der Konzeption mitgedacht sind und ihre Rolle spielen, den Rahmen an dieser Stelle aber sprengen würden.
Eine Utopie ist das grundlegend revolutionierte Mediensystem nun nicht nur im Ergebnis, weil die Chance auf Umsetzung unterhalb von spielt's nicht liegt. Die Utopie stand vielmehr am Beginn dieses Projekts, nämlich als Ziel, eine solche zu formulieren. Die Utopie als Form bietet schließlich Freiheiten, die es auszunutzen gilt. Anything goes. Sie soll der offensiven Erweiterung des Denkbaren dienen. Ihr Kriterium sei, ob wir uns wünschten in ihr zu leben, also in einer Welt, in der sie nicht Utopie sondern Realität ist.
Die Realität unseres bestehenden Mediensystems wird als uns allen bekannt vorausgesetzt. Der Bezug zu Theorien, empirischer Forschung, bereits existierenden Konzepten wie z.B. jenem zur Neuorganisation der Presseförderung bleibt ausgespart. An einen state of the art laufender Debatten wird bewusst nicht angeschlossen. All das spielt für die Formulierung einer Utopie letztlich keine Rolle.
Und doch würde ich für den Entwurf gerne den Anspruch anmelden, ein pragmatischer und nicht vollkommen utopisch zu sein: selbst wenn eine Umsetzung vollkommen unrealistisch ist, aber funktionieren würde das Modell in der Praxis.
Sieben Prämissen für die Revolution
Was hat den Entwurf angeleitet abgesehen davon, dass es eine schöne Utopie werden sollte? Um das zu beantworten folgt im ersten Durchgang eine Dokumentation der Ausgangsüberlegungen und Leitlinien.
1. Ein triales Mediensystem, das den Namen verdient
Österreich hat ein so genanntes triales Mediensystem, zumindest seit 1997 mit einer Novelle zum Regionalradiogesetz die meisten zuvor illegalisierten Piratenradios zu Freien Radios wurden, wie sie bei uns genannt werden. Seit 2005 gibt es neben Freien Radios außerdem offene Fernsehsender. Zusammen gehören sie zum dritten Sektor neben öffentlich-rechtlichem Rundfunk und den privaten Massenmedien.
Allein, das Bewusstsein, dass wir dieses triale Mediensystem haben, das scheint sich nicht einmal bis zu den Parlamentsabgeordneten durchgesprochen haben. Als im April 2015 die „Enquete-Kommission zur Stärkung der Demokratie“ das Thema „Politik – Medien – Bürgerinnen und Bürger“ mit von allen Parteien geladenen Expert_innen diskutiert, kommen die offenen Sender, andernorts wie in Deutschland Bürgermedien genannt, in keiner Weise vor. Und dabei handelt es sich nicht um einen beliebigen Einzelfall. Das Beispiel ist symptomatisch.
Ein triales Mediensystem, das diesen Namen verdient, muss also von einer deutlichen Aufwertung der Freien Medien bzw. offenen Medienplattformen ausgehen.
2 & 3. Systemdifferenzierung und checks'n'balances
Parallel zum Ausgangspunkt "triales System" seien zwei weitere Grundprinzipien an den Anfang gestellt. Beide zielen auf ein stabiles System ab, stabil nämlich gegenüber dominant werdenden Einflüssen. Im einen Fall geht es darum, der Konzentration auf große, sich alles unterordnende Machtapparate entgegenzuwirken. Dieses Prinzip der Differenzierung zielt außerdem auf klarere Trennschärfe zwischen – in dem Fall – Medienhäusern und fordert dezentrale, möglichst autonome Einheiten. Hier geht es um Heterogenität, um Vielfalt, Breite, auch um strukturellen Pluralismus.
Das zweite Grundprinzip, die dritte Prämisse zielt auf checks'n'balances ab. Es hat einerseits natürlich mit den idealen Funktionen des massenmedialen Systems in Gesellschaft und Staat zu tun, v.a. der Kritik- und Kontrollfunktion in einer als funktionierend wahrgenommen Demokratie. Als Prämisse für die Entwicklung dieses Konzepts sollte sie aber so verstanden werden, dass die Regelung des Mediensystems selbst als fein austariertes Spiels aus checks'n'balances anzugehen wäre.
4. Öffentlich-rechtlich: autonom und selbstverwaltet
Den ersten drei Prämissen wäre mit der eingangs erwähnten Aufwertung des dritten, marginalisierten Sektors lange nicht Genüge getan. Warum? Weil die Trennschärfe zwischen den dominierenden Mediensektoren "privat" und "öffentlich-rechtlich" verloren gegangen ist. Der öffentlich-rechtliche Medienbereich folgt schon geraumer Zeit der selben Strukturlogik wie werbefinanzierte, kommerzielle Medien.
Im ORF regieren seit Jahrzehnten die Kriterien Wettbewerbsfähigkeit und Quote, nicht die Erfüllung der gesetzlich definierten Aufträge. Wenn die vierte Prämisse nun vorsieht, dass der öffentlich-rechtliche Mediensektor ohne jede Finanzierung aus Werbeeinnahmen auskommen muss, so geht es um die rigorose Trennung der Strukturlogiken von privat gegenüber öffentlich-rechtlich. Der Hebel für den Einfluss des Kapitals auf die Medien wird ausgeschlossen. Die Quote wird vom Primat zur strategisch irrelevanten Größe für das Management der öffentlich-rechtlichen Sender und für die Arbeit in ihnen.
Damit aber nicht genug. Der öffentlich-rechtliche Sektor soll von den Gebührenzahler_innen selbst verwaltet werden; wenn auch freilich nicht in der jahrhundertalten, seit Schwarzblau in Österreich vollends pervertierten Form der Selbstverwaltung à la Sozialversicherung. Die Selbstverwaltung wird in einer dem 21. Jahrhundert zeitgemäßen Art und Weise organisiert (und die will in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrzehnts immer noch erfunden, entwickelt, perfektioniert werden).
In Anlehnung an die Konzepte von liquid feedback und liquid democracy möchte ich diese Form der Selbstverwaltung als liquid autonomy bezeichnen. Wie das genauer aussehen sollte, dass nämlich die Gebührenzahlenden wie auch die von Gebühren Befreiten laufend in Prozesse der Entwicklung, des Controllings, der partizipativen Gewichtung von Budgets und der Bestellung von Redaktionen involviert sind, dazu muss ich auf den späteren eigenen Abschnitt zu liquid autonomy vertröstet.
Hier nur soviel, nach dem Einfluss des Kapitals würde durch die "fließende, deliberative Selbstverwaltung" der Einfluss von Parteien und Regierung minimiert.
5. Kopplung von Werbeeinnahmen und Contentförderung
Der Sektor der kommerziellen Privatmedien bleibt in dieser Utopie ja weitgehendst unberührt. In mancherlei Hinsicht bedeutet der Umbau der öffentlich-rechtlichen Medien gar günstigere Strukturbedingungen für die Privaten. Ihnen geht ein starker Konkurrent um Werbebudgets verloren. Bei den Geboten für Übertragungsrechte z.B. zu olympischen Spielen blieben kommerzielle Medienkonzerne unter sich. Für die Umsätze der Privaten wäre das eine positive Sache. Dafür sollten diese, indirekt, zur Finanzierung unabhängig produzierter Medieninhalte herantgezogen werden.
Prämisse fünf lautet in diesem Sinne: aus der Werbeabgabe wird eine – übrigens etwas höhere und verbindliche – zweckgebundene Steuer. Zweckgebunden wären die Erlöse aus dieser Steuer an die Finanzierung von Medienproduktionen in Österreich, also an die Förderung von Content.
Gespeist werden könnten mehrere Töpfe, einer würde dem öffentlich-rechtlichen, ein anderer Topf den offenen Medienplattformen zu Gute kommen, ein Teil würde in einen gut dotierten Recherchepool fließen und noch einmal andere Teile könnten in genau definierten Programme z.B. der Filmförderung, dem Datenjournalismus oder Reportagen aus entfernten Ländern dienen. Für alle diese Töpfe würde als Voraussetzungen gelten, dass solcherart geförderter Content in der Lizenzierung als Gemeingut definiert sein muss.
Ähnlich kommunizierenden Gefäßen wäre gemäß Prämisse fünf nun die Höhe der Einnahmen des kapitalabhängigen, privaten Mediensektors ausschlaggebend für den Umfang der Mittel, die zur Finanzierung unabhängiger Inhalte bereitstehen. Das hieße: geht's den kommerziellen Medien gut, geht es dem unabhängigen Journalismus gut. Checks'n'balances, baby.
6. Aufträge der Medien und ihre Integration in Medien
Wir alle kennen die Begriffe Kultur- und Bildungsauftrag. Wer weiß aber, wie diese Aufträge definiert sind, wie ihre Erfüllung überprüft und in welcher Form eine Nichterfüllung sanktioniert wird? Dann gibt es noch Gremien wie einen Publikums-, Presse- oder Werberat. Selten ist etwas von ihrer Behandlung von Verstößen gegen Richtlinien, Ethik oder Aufträge zu lesen.
An diese Fragen von gesellschaftlichen Aufträgen, ethischen und rechtlichen Standards, denen Medien nachzukommen haben, setzt Prämisse sechs an. Erstens mit der Klärung, Redefinition und einer Systematisierung der Aufträge. Zweitens, in dem ein gänzlich anderer Zugang zur Operationalisierung von Kontrolle, Berichtswesen, Sanktionen implementiert wird.
Statt allein auf Gremien der (Selbst-)Kontrolle, auf Rügen und/oder finanzielle Strafen zu setzen, obliegt es in den öffentlich-rechtlichen Häusern integrierten, unabhängigen Redaktionen laufend im Medium über die Erfüllung der gesetzlich definierten Aufträge und die Verletzungen von Standards zu berichten. Gesetzlich definiert wären nicht allein die Formulierung der gesellschaftlichen Aufträge sondern auch die Regeln zur Konstruktion von damit befassten Redaktionen und die Verpflichtung an die – natürlich öffentlich-rechtlichen – Medien, für diese Redaktionen im Sendeschema einen Platz reserviert zu halten.
7. Öffentlich-rechtliches Archiv und gemeinnützige Lizenzierung
Last but not least basiert die Utopie der Revolutionierung des Mediensystems darauf, die Frage des Archivs, der Verwertungs- und Nutzungssrechte gleichrangig in die Diskussion der Medien miteinzubeziehen.
Prämisse sieben lautet: Content sollte nach Möglichkeit Gemeingut und Archive sollten offen sein, Verwertungs- und Nutzungsrechte müssen den Zugang aller zu Informationen, zu Wissens- und Kulturproduktion ermöglichen. Medienprodukte aus dem Sektor der Öffentlich-rechtlichen und solche mit Finanzierungsanteilen durch öffentliche Gelder müssen, wo immer möglich, gemeinnützig lizenziert zu sein und haben in ein gut offen zugängliches Archiv eingebracht zu werden.
Die Geometrie der Medienlandschaft
Wie sieht das diverse, differenzierte, triale Mediensystem auf Basis obiger Grundsätze nun aus. Erstens, und damit schnell abgehandelt, bleibt der Sektor der privaten, kommerziellen Medien weitgehendst unberührt. Eine Bändigung des Kapitaleinflusses auf Medien wird kaum über die Regulierung der privaten Medien zu erreichen sein, nicht in dieser Welt der globalen, zunehmen transnationalen Medienkonzerne.
Die Bändigung des Kapitaleinflusses muss nichtsdestotrotz über ein angewandtes Kartellrecht und arbeitsrechtliche Grundlagen versucht werden, aber auch diese Ebenen betreffend wird die Stärkung von Freiräumen mehr bringen: Freiräume von der pur kapitalistischen Organisation in der massenmedialen Kommunikation.
Zweitens, der öffentlich-rechtliche Sektor hat nichts mehr mit dem ORF, dem riesigen, zentral gesteuerten Apparat gemein, der dann doch dem Kapitalmarkt unterworfen ist. Der primäre Sektor wird vielmehr durch fünf zueinander autonome Einheiten gebildet: den öffentlich-rechtlichen Organisationen für Fernsehen, für Radio, für Internet, für Print und für das Archiv der Medienproduktionen.
Gemeinsam haben sie, dass sie im checks'n'balances-Spiel durch ihre Gebührenzahlenden und Contentproduzierenden selbst verwaltet werden. Die grundlegende Abhängigkeitsstruktur unterscheidet sich somit radikal von der Realität des privaten Sektors.
Zur Gegenüberstelltung kurz skizziert, sieht sie im privaten Sektor etwa so aus: Eigentümer (oft auch Herausgeber_innen genannt) suchen sich ihr Management aus (Chefredaktionen), das die Arbeitenden (im Mediensystem als Journalist_innen bezeichnet) führt und ihre Arbeit regelt. Finanziert wird das einerseits von den Eigentümern (share-holdern, Konzernen, Oligarchen, …) und anderseits vor allem den Kunden, das heißt den Werbung bzw. Anzeigen schaltenden Branchen.
Die Abhängigkeitsstruktur im neu strukturierten öffentlich-rechtlichen Sektor würde dagegen durch ein Dreieck beschrieben, ein Dreieck aus Gebührenzahlenden, Contentproduzent_innen und der gemeinsamen Selbstverwaltung via liquid autonomy.
Der tertiäre Sektor schließlich folgt dem Prinzip lokaler kooperativer Selbstverwaltung und -organisation. Er kennt bis dato offene Fernsehsender, freie Radios und in diesem Modell neu hinzukommend offene Webplattformen, alternative Zeitschriften und lokale Wandzeitungen, die in der Rechtsform des Vereins oder, noch besser, in Mediengenossenschaften organisiert sind. Letztere Rechtsform wäre freilich erst zu schaffen.
Die Infrastruktur für die Organisationen des dritten Sektors wird wie heute bereits durch Steuermittel bereitgestellt und hauptsächlich kommunal finanziert. Darüber hinaus kann nun endlich auch etwas für Contentproduktion bezahlt werden. Die Gelder dazu kommen aus dem eigenen Topf für diesen Sektor, der über die zweckgebundene Werbesteuer gespeist wird.
Das als solches ernstzunehmende triale Mediensystem kann im ersten Grundriss wie folgt dargestellt werden:

GBW
Eine Anmerkung zu dieser Systematik, bevor es zur Weiterentwicklung der Utopie geht. Ja, die öffentlich-rechtliche Organisation des ORF hat historisch damit zu tun, dass Radio- und Fernsehfrequenzen im Gegensatz zum Trägermedien der Zeitungen und Zeitschriften knappe Güter waren/sind. Daher wurden/werden Frequenzen vom Staat versteigert bzw. vergeben.
Printprodukte und heute auch Websites sind dagegen freie Güter, in ausreichender Menge vorhanden. Wenn der Sektor der öffentlich-rechtlichen Medien hier über den Rundfunk hinaus in die Bereiche Print, Web und Archiv ausgedehnt ist, so hauptsächlich darum, weil ich die Möglichkeiten der Utopie ausnutze … und würden wir eine wirklich unabhängige, werbefreie, selbstverwaltete Zeitschrift in unserer Medienlandschaft nicht gut gebrauchen können?
Warum fünf autonome ÖR-Organisationen
Das möglicherweise interessanteste und vielleicht wichtigste Konstruktionselement meines Konzepts mag die Verwaltungsform der liquid autonomy sein, die ich schon vorschlagen aber noch nicht genauer vorgestellt habe. Bevor dieses Herzstück genauer behandelt wird, muss ich auf die fünf einzelnen öffentlich-rechtlichen Organisationen eingehen und dann, zumindest kurz, auf die Felder des offenen Sektors eingehen.
Warum nun fünf autonome ÖR-Organisationen? Das hat zum einen den Hintergrund, Vielfalt und Unterscheidbarkeit zu evozieren, die checks'n'balances durch ein diverses System mit mehr autonomen Einheiten gegenüber Machtfülle stabiler zu machen. Soviel war in den Prämissen vorausgeschickt. Darüber hinaus lässt sich argumentieren, dass die Mediensparten in der Contentproduktion und -vermittlung doch ziemlich unterschiedliche Vorgaben machen. Fernsehen legt andere Formate nahe als Radio. Diese beiden wiederum funktionieren anders als Print. Die Potentiale des Webs legen noch einmal ganz andere Arbeitsweisen nahe, auch für Journalist_innen. Die ÖR-Organisationen pro Sparte könnten sich also auf die Logik ihrer Medien konzentrieren und in diesen Zeiten strukturellen Medienwandels besser auf zukunftsweisende Konzepte setzen. (Warum deswegen trotzdem Synergien zwischen allen ÖR-Häusern nutzbar wären, dazu etwas später.)
Darüber hinaus wäre die Aufteilung des öffentlich-rechtlichen Sektors nach Mediensparten Bedingung, von staatlicher Seite Schritte gegen den zu hohen Grad der Medienkonzentration in der österreichischen Medienlandschaft vorzunehmen und auch im privaten Sektor eine analoge Entflechtung entlang der Mediensparten einzuleiten. Die Entflechtung der privaten Konzerne ist zwar nicht Thema dieses Modells, dass das wünschenswert wäre, soll jedoch ausgesprochen werden.
ÖR-Fernsehen
Fernsehen ohne Millionen aus Werbeeinnahmen würde notgedrungen anders organisiert werden, selbst dann, wenn wir nicht noch liquid autonomy als anderes Managementprinzip einführten. ÖR-tv würde gegenüber dem heutigen Küniglberg schrumpfen und müsste sich auf Kernkompetenzen des öffentlich-rechtlichen Sektors bzw auf die gesetzlich definierten Aufgaben beschränken. Diese bekämen Vorrang gegenüber der Quote. Der Verlust von Großereignissen und Blockbustern reduziert die Reichweite. Allerdings bekäme ÖR-tv ein Alleinstellungsmerkmal (oder mehrere), so dass ich mich traue die übliche These anzugreifen, nach der es das Massenprogramm brauche um Publikum für Informationssendungen halten zu können. In den Bereichen Sport, Popkultur, Dokus und Filme würden außerdem die Breite, würde Nachwuchs, würde lokal Produziertes wieder eine größere Rolle bekommen.
Die Aufträge, zu denen ich noch im kommen werde, wären insoferne Teil des Programms als es im Sendeschema vorgesehene Plätze gäbe, in denen es allein um die journalistische Auseinandersetzung mit diesen Aufträgen ginge, um ihre Hintergründe, ihre Verwirklichung und um Verfehlungen. Ähnlich der Verankerung von „Heimat fremde Heimat“ vor dem Hintergrund der gesetzlichen Verankerung eines Angebots für österreichische Volksgruppen würde eine Redaktion sich z.B. wöchentlich mit journalistischer Praxis, Ethik und mit aktuellen Fällen beschäftigen, dabei ebenso Verletzungen der Standards kritisierend wie auch Positivbeispiele aufzeigend.
Öffentlich-rechtlich käme den postulierten (idealen) sozialen Funktionen der Massenmedien näher: der Kritik- und Kontroll-, der sozialen Orientierungs-, Integrations- und Sozialisierungsfunktion, der politischen Bildung, Kulturproduktion und -vermittlung usw.
ÖR-Radio
Die zuletzt behandelten Punkte gelten freilich nicht nur für das Fernsehen sondern genauso für Radio (und in weiterer Folge Print und Web), nur dass wir hier, mit Blick auf fm4 und Ö1, einige der genannten Aspekte seit langem in der Umsetzung studieren können. ÖR-Radio wäre sehr vereinfacht gesagt werbefreies fm4 und Ö1. Ö3 ist Privatradio.
An dieser Stelle seien vier Anmerkungen zur Werbefreiheit bzw zum Verbot von Werbung für den öffentlich-rechtlichen Sektor platziert, die für alle Organisationen des Sektors zu gelten hätten: Ö1 führt vor, wie Werbung auch in den werbefreien Radiosender integriert wird. Den Club-Aussendungen liegen Werbematerialen von Bankhäusern bei, Programmehefte zeigen Firmenlogos, Veranstaltungen sind gewidmet. Das alles wird konsequent verboten.
Zweitens, die Umgehung des Werbeverbots durch die Auslagerung von Organisationsteilen in Töchter und die Beteiligungen an Gesellschaften beschränkter Haftung, ich nenne sie bewusst nicht Unternehmensteile, ist genauso untersagt. Werbeverbot wie auch Beteiligungen und Kooperationen werden kontrolliert, zum einen im Zuge der deliberativen Selbstverwaltung und zum zweiten durch die unabhängige Redaktion, die sich mit dem Auftrag „Kontrolle der Finanzierung des Mediensystems“ befasst.
Es gibt allerdings auch als Werbung verstandene Information, die sehr wohl im öffentlich-rechtlichen Sektor verankert sein sollte: Information von Seiten staatlicher Institutionen. Wir erinnern uns daran, früher Belangsendungen von Parteien oder Ministerien im Fernsehen gesehen zu haben. Diese Informationen wie etwa auch solche von Sozialversicherungen und Behörden haben in öffentlich-rechtlichen Medien ihren Platz. Die sind der vorrangige Bezugspunkt politischer Meinungsbildung und der adäquateste Weg, mittels dem die Verwaltung Bürger_innen informiert. Ob es sich tatsächlich um Information oder da oder dort dann um Werbung ohne jeden Informationsgehalt handelt, das zu dokumentieren wäre wieder Aufgabe oben genannter unabhängiger Redaktion.
ÖR-Zeitschrift
Etwas dieser Art gibt es nicht, eine öffentlich-rechtliche Zeitschrift oder Zeitung. Es gibt die Wiener Zeitung im Besitz der Republik Österreich und ihr amtliches Veröffentlichungsorgan darstellend. Ihr Managment muss nicht auf die Auflage und Anzeigenkunden schielen. Die Besetzung der Chefredaktion fällt dem Bundeskanzleramt zu. Sie ist weder dem privaten noch dem öffentlich-rechtlichen Sektor zuzurechnen.
Zeitungen oder Zeitungen mit Zügen von Selbstverwaltung gibt es anderenorts, den Guardian durch seine Stiftungskonstruktion, die genossenschaftliche organisierten schweizer WOZ sowie die deutschen taz und Junge Welt. In gewisser Hinsicht wäre eine ÖR-Zeitschrift mit Gebührenzahlenden und liquid autonomy mit solchen Konstruktionen vergleichbar. Ein kleines bisschen auch mit der österreichischen APA, deren Genossenschafter der ORF, die Wiener Zeitung und viele private Medienhäuser sind. Alle diese Vergleiche hinken.
Eine ÖR-Zeitschrift, an eine solche denke ich viel eher als an eine Tageszeitung, die vl alle zwei Wochen erscheinen würde, braucht nicht das Tagesgeschehen abzudecken. Punkto Geschwindigkeit ist das Web das Medium. Sie braucht nicht Politiker_innen die Bühne zu bieten, das ist die Rolle des Fernsehens.
Eine ÖR-Zeitschrift würde Raum für tiefergehende Analyse bieten, allgemein für "österreichische" Belange sei das Außenpolitik, Sport, Kultur, Wirtschaft oder Wissenschaft, für Informationen staatlicher Organisationen, die nüchterne und integrierende Darstellung gesellschaftlicher Diskurse, für die Erfüllung der gesellschaftlichen Aufträge der ÖR-Medien, die auch für die ÖR-Zeitschrift eigene Redaktionen vorsieht (jene Aufträge, die schon öfter erwähnt aber immer noch nicht aufgezählt wurden).
Ich weiß nicht, ob eine solche Zeitschrift ökonomisch denkbar wäre bzw wie das Finanzierungsmodell abseits von Gebührenzahlenden noch aussehen müsste und ob das dann in diese Utopie passt, aber ich möchte über eine solche Zeitschrift nachdenken können, die von ihren Leser_innen/Gebührenzahlenden via liquid autonomy verwaltet wird.
ÖR-Web
Aktuell gibt es den öffentlich-rechtlichen Sektor mit diversen Angeboten und diversen Auftritten pro Sender im WWW, selbst wenn das ORF-Gesetz von 2010 die Möglichkeiten des ORF, der Bevölkerung Inhalte zur Verfügung zu stellen massiv bis kabaretthaft beschränkt hat. Mit all diesen Auftritten hätte das, was eine eigene ÖR-Organisation für die Mediensparte Internet darstellen sollte, nichts zu tun.
ÖR-Web müsste bedeuten, an ein eigenständiges, zeitgemäßes, zukunftsweisend organisiertes Medium im und für das Web zu denken, das aber öffentlich-rechtlich organisiert ist, mit all den Aufträgen und Rahmenbedingungen, die hier besprochen werden.
ÖR-Web ist vom Journalismus aus zu denken, wie ihn das Internet ermöglicht bzw erfordert; d.h. Vorteile punkto Geschwindigkeit und Aktualität nutzend, die dialogischen Optionen, den schnellen Mix verschiedener Contentsorten und das Aggregieren von Inhalten aus dem Netz, das Einbinden von nicht professionell-erstellten Inhalten in journalistische Arbeit, den Datenjournalismus, das Arbeiten mit der unbekannten "Cloud" in größeren Projekten wie dem Durchforsten von Dokumenten, das prozesshafte Dokumentieren von journalistisch begleiteten Prozessen uvm.
ÖR-Archiv
Im Mittelpunkt der vier oben genannten ÖR-Organisationen steht der klassische journalistische Anspruch, unabhängig davon, dass natürlich nicht nur Information und Kritik sondern auch Unterhaltung geboten wird. Ein Archiv folgt dagegen anderen Regeln, es hat einen Auftrag ähnlich jenem der Nationalbibliothek oder von Museen.
Als Organisation kümmert sich das ÖR-Archiv um sichere Archivierung, um Digitalisierung älterer Bestände, Bereitstellung mit übersichtlichen Katalogen, Filter- und Suchoptionen, zugängliche Information über das Archiv inklusive Schulung, dann die Rechteverwaltung und Feststellung der Verletzung von Rechten sowie schließlich Ankauf von Mediencontent.
In dieses Archiv werden alle im primären öffentlich-rechtlichen und im tertiären offenen Sektor produzierten Inhalte eingespielt. Leitlinie des ÖR-Archivs ist es, einen möglichst großen Stock an gemeinnützig lizenzierten Inhalten bereitzustellen.
Für Inhalte – ab der utopischen Mediensystemrevolution – ist das bereits die Regel, dass sie gemeinnützig lizenziert werden, etwa unter creative commons. Die Organisation des ÖR-Archivs hätte aber den generellen Auftrag zu prüfen und darüber zu verhandeln, ältere wie aktuelle Inhalte mit eingeschränkten Nutzungsrechten zu "befreien". Das ginge so weit, dass Museen ähnlich ein Budget für den Ankauf zur Verfügung steht, nicht so sehr für materielle Originale als vielmehr für Nutzungsrechte.
Die ÖR-Organisation wäre also spezialisiert auf die Bereitstellung eines Archivs samt aller wichtigen Informationen zu Werken, darunter die diversen Verwertungs- und Urheberrechte und Kontaktdaten der Rechteinhaber_innen. Wem würde ÖR-Archiv diese Informationen frei zur Verfügung stellen, allen? In Abstufung ja.
Zum einen gäbe es die Kataloginformationen und unter diesen wiederum Abstufungen wie eben erwähnt bis zu den Kontaktdaten aller Rechteinhaber_innen an z.B. einem langen Radiofeature oder an einem Dokumentarfilm. Manche dieser Informationen stehen nur Gebührenzahlenden und natürlich den Journalist_innen der Mediensektoren vollkommen offen, die ihrerseits verpflichtet sind ihre Medienproduktionen offen zu lizenzieren.
Hier liegt übrigens eine Basis der Synergien zwischen den an sich autonomen ÖR-Organisationen. Das ÖR-Archiv ist eine spezialisierte Dienstleistung für sie und die Archivinhalte sind offen lizensiert, also sind die der einen Mediensparte frei nutzbar in jeder anderen. Plus, das moderne Archiv ist naheliegenderweise ein digitales via Internet zugängliches und die technische Infrastruktur dahinter dient allen ÖR-Medien.
Gebührenzahlende können mehr mit dem ÖR-Archiv und Archivinhalten machen als nicht Gebührenzahlende. Eingeschränkte Nutzungsrechte, die das öffentliche Lesen, Hören, Abspielen von Werken verbieten, können trotzdem die Nutzung für Gebührenzahlende innerhalb der Archivplattform gestatten. Denkbar sind sogar Nutzungsrechte, die den Gebührenzahlenden unter Bedingungen die öffentliche Nutzung zusagen. Und dann wäre die moderne ÖR-Archiv-Plattform das: ein Remix- und Mashup-Wonderland für die u.a. dafür ihre Gebühren Zahlenden.
Während Gebührenzahlenden möglichst alle Nutzungen frei stehen und selbstverständlich ohne weitere Kosten, wird das ÖR-Archiv für manche Dienstleistungen und die Erteilung von Nutzungsrechten in bestimmten Fällen bezahlt werden. Ähnlich der APA bietet das ÖR-Archiv etwas an, das von Privatmedien und anderen gewinnorientierten Institutionen gebraucht wird. Die freie Nutzung im Öffentlich-rechtlichen produzierter Inhalte inkludiert nicht die Nutzung für kommerzielle Zwecke. Die Lizenzgebühren dafür hebt das ÖR-Archiv ein und finanziert so den weiteren Ankauf von Nutzungsrechten zur Befreiung von Content.
Die offenen Medienplattformen
In Österreich hat sich der Begriff der freien Radios eingebürgert und folglich wird der tertiäre Sektor, wenn überhaupt von ihm gesprochen wird, unter "freie Medien" subsumiert. In anderen Ländern dominiert der nicht ganz deckungsgleiche Begriff der alternative oder citizen media, bereits erwähnt wurden die Bezeichnungen Bürgermedien und offene Sender, die vor allem in Deutschland gebräuchlich sind.
Ich möchte den begrifflichen Bogen etwas anders spannen, indem ich von offenen Medienplattformen statt von freien Medien spreche. Einbezogen sollen neben den Freien Radios, offenen Kanälen hier zusätzlich offene Webplattformen und, auf der Printebene, Wandzeitungen sein. Offenheit ist das vorrangige Prinzip all dieser Medien, offen nämlich für potentiell alle und also genauso für professionelle Medienmacher_innen wie für Amateure. Offen aber auch in Bezug auf Inhalt, Art und Aufbereitung von Inhalten.
Analog zum öffentlich-rechtlichen Sektor sprechen wir bislang auch im tertiären nur von den Rundfunksparten Radio und Fernsehen als diesen Sektor konstituierend. Die Infrastruktur stellt der Staat via Medien-, Kulturförderung und Projektförderung, im tertiären Sektor vorrangig Länder und Gemeinden, im geringeren Maße der Bund. Die Rolle der offenen Medienplattformen ist lokaler Vielfalt und lokalen Auseinandersetzungen Raum zu geben. Die Basis, wie das funktioniert, ist Kooperation und Selbstorganisation, was wiederum den räumlich begrenzten Charakter befördert.
Ein paar wenige Arbeitsplätze im Infrastrukturbereich sind bezahlt. Die Contentproduktion ist reines Ehrenamt, bislang. Mit meinem Konzept wird ein Topf eingeführt, der spezifisch der Finanzierung von Contentproduktion zugeordnet ist. Außerdem gibt es Fördertöpfe, die allen Medienarbeiter_innen offen stehen und mithin auch solchen, die in offenen Plattformen produzieren.
Offene, lokale Webplattformen
Dass offene Plattformen analog zu Radios und TV-Kanälen genauso auf dem Internet basieren könnten, liegt auf der Hand. Die Infrastruktur bereitzustellen obliegt wieder den Kommunen, und diese Infrastruktur hätte sich über Serverplatz, CMS und eine Domain hinaus daran zu orientieren, was bestehende Medien im dritten Sektor bereitstellen: Schulungen, Treffen, Räumlichkeiten und Equipement, eine gewisse Öffentlichkeitsarbeit, Projektplanung und -abwicklung sowie vor allem gemeinsame Strukturen (also auch Regeln und Ausschlüsse), die kooperative ausverhandelt werden.
Dass mit einer Förderung solcher Organisationen viel für lokale web literacy, für die Unabhängigkeit von New Economy-Konzernen und Social Media-Plattformen getan wäre, dass dies lebendige Dialogplattformen würden und eine eminente Förderung für eine aktive Zivilgesellschaft wären, dass Schulen diese Medienlabore perfekt in Projekte einbeziehen könnten und ein lokaler Kunst- und Kulturbetrieb einen Freiraum bekäme, das sei nur am Rande behauptet, ohne ins Detail zu gehen.
Das freie Plakat auf der offenen Wandzeitung
Und Print? Alternative Zeitung und Zeitschriften gibt es. Sie könnten und sollten besser und am besten anders gefördert werden, sollen hier aber nicht im Fokus stehen. Stattdessen der öffentliche Raum des Grätzels, der Stadt, des Dorfes. Dieser Raum ist in Österreich in einem Maß mit Werbung zugepflastert, wie ich es in kaum einer anderen Region gesehen habe. Das Medium des Plakats ist in Wien monopolisiert für Werbung. Information oder Kritik kommen nicht vor, Unterhaltung nur selten in Form von adbusting Eingriffen.
Daher führen wir jetzt Wandzeitungsbereiche ein. Die Infrastruktur ähnlich wie in den anderen Mediensparten kommunal organisiert, sind Wandzeitungen offene Flächen im öffentlichen Raum, um die herum sich eine neue Kultur des Informationsaustausches herausbilden soll. Hier kann plakatiert, angeschlagen und ausgeschrieben werden. Hier können offenen Bücherschränken ähnlich Zeitschriften, Flugblätter, Flyer und ähnliches präsentiert und ausgetauscht werden.
liquid autonomy
Zuerst, liquid autonomy™ gibt es nicht. Der Neologismus ist selbstkonstruiert. Der erste Begriffsteil „liquid“, flüssig, verdankt sich der Inspiration durch liquid feedback und liquid democracy. Bei beiden handelt es sich zum um Ansätze, eigens zu dem Zweck programmierte Software und erste Umsetzungen, die Möglichkeiten des Internets für demokratische Entscheidungsfindungsprozesse zu nutzen. Eben diese Möglichkeiten des Internets schaffen neue, praktikable Ausverhandlungsräume (Plena) und -zeiträume (Perioden) abseits der etablierten Arenen und Beschlussperioden. Die Erfahrungen mit diesen Ansätzen unterlaufen die Dichotomie aus repräsentativer versus direkter Demokratie.
Der zweite Begriffsteil „autonomy“ ist eine möglich Übersetzung von Selbstverwaltung. Die Grundidee der liquid autonomy ergänzt also den für sich genommen alten Anspruch, wichtige Institutionen in der Gesellschaft gesellschaftlich selbstzuverwalten um den neuen Anspruch, das in einer zeitgemäßen, webunterstützten Art und Weise zu organisieren.
Die Bausteine sind vorhanden, dass das funktionieren kann. Bei den bekannten flüssigen Entscheidungsfindungssystemen ist die Basis das Internet, die Software, der Benutzeraccount. Die Software muss so konstruiert sein, dass Informationen für alle Nutzer_innen gleichermaßen übersichtlich aggreggiert, gebündelt und zugeordnet werden können, dass der deliberative Prozess transparent und jederzeit verständlich ist. Nun sind all das Erfordernisse, die in der repräsentativen Demokratie die Massenmedien abdecken, Aufgaben also, die von Medien laufend wahrgenommen werden. Es liegt auf der Hand, liquid feedback Systeme und Massenmedien ergänzen sich perfekt, wenn sie in einen Organisationsablauf verschränkt werden können.
Verschränkung von liquid autonomy und Massenmedien
Bevor wir zur Frage kommen, womit sich die Selbstverwaltung der ÖR-Medien befasst sein sollte und womit nicht, möchte ich noch ein bisschen über die Elemente der liquid autonomy und über ihre Anordnung sprechen. Zuerst sind da die Gebührenzahlenden, wie ich sie bislang genannt habe, damit mehr oder weniger elegant das Problem aufschiebend, ob Gebühren in diesem Modell weiterhin für Haushalte zu entrichten oder ob sie personenbezogen sind. Ich umschiffe diese Frage mit Verweis auf den Skizzencharakter weiterhin. Ob Personen oder Haushalte (für Personen), gehen wir einmal von Accounts auf Webplattformen aus, wie wir sie seit geraumer Zeit bei Telekom-, Strom oder Gasanbietern haben.
An die Benutzerkonten bei unserem ÖR-Medium ist im digitalen Zeitalter alles angebunden, Ab- und Anmeldung, Verrechnung, Kundendienst, … und die Infrastruktur, mit meinen vielen anderen Gebührenzahlenden Mitverwalter_innen wie auf jeder Soziale Netzwerke-Plattform in Kontakt zu treten. Die Anmeldung im System verschafft außerdem Zugang zu Foren und Debattensträngen, zu Dokumenten, zu Berichten, zum Archiv, zu Abstimmungswerkzeugen und -ergebnissen, zum Kalender und – für die Selbstverwaltung meines ÖR-Mediums – relevanten Terminen usw.
Mit dem Benutzerkonto auf der liquid autonomy-Plattform kann ich an Debatten teilhaben, Vorschläge einbringen, kommentieren, gewichten, unterstützen, ergänzen oder abändern. Ich kann an Abstimmungen teilnehmen. Ich kann Berichte einsehen und Berichte einfordern. Ich kann mit anderen zusammenarbeiten. Aber natürlich muss ich all das nicht. Ich kann meine Stimmrecht für Abstimmungen auch delegieren, und ich muss auch das nicht. Ich kann es auch der Berichterstattung meines ÖR-Mediums überlassen, mir die im liquid autonomy-Prozess gerade relevanten Vorschläge, Kontrollberichte und Fragen zusammenzufassen, denn natürlich, mein ÖR-Medium hat eigene Sendungen bzw. Seiten, die regelmäßig informieren, was punkto Selbstverwaltung ansteht, diskutiert wird oder entschieden wurde.
Was kann alles anstehen, diskutiert oder abgestimmt werden? Und welche Rolle kommen den in den ÖR-Medien arbeitenden Journalist_innen, den Redaktionen und welche Rolle kommt der Verwaltung zu?
1. Debatte
Diese Ebene ist einfach, fast banal. Es kann diskutiert werden, debattiert werden, es können Ideen und Vorschläge unterbreitet werden, von denen manche wenige im deliberativen Prozess reifen und solche Gestalt annehmen, dass sie zu Abstimmungen kommen oder als wertvolle Anregungen von Redaktionen aufgenommen werden. Irgendwo dazwischen wird die liquid-autonomy-Redaktion bereits über solche Ideen berichten, über ihre Hintergründe und den Charakter der Initiative.
Kennzeichen der Debattenebene ist, dass sie vollkommen offen ist. Für das Einbringen von Ideen und für das Debattieren gibt es weder inhaltliche Einschränkungen noch festgelegte Zeiträume und auch keinen bindenden Charakter, der Redaktionen, die Verwaltung oder sonst einen Organisationsteil zwingt, sich mit etwas zu befassen. Trotz des unverbindlichen Charakters erfüllt diese Ebene wichtige Aspekte der Strategieentwicklung.
2. Kontrolle
Eine weitere wesentliche Aufgabe der Selbstverwaltung ist die Kontrolle. Auf dieser Ebene der liquid autonomy sind Fragen des Berichtswesens und der Berichtspflicht geregelt. Auch geregelt sind Modi des Feedbacks, wann, wie und inwieweit Angestellte des ÖR-Mediums, ob in der Verwaltung oder in Redaktionen, für prüfende Fragen durch die Gebührenzahlenden bereitsstehen müssen. Außerdem ist auf dieser Ebene die Möglichkeit verankert, Personen oder Organisationseinheiten das Misstrauen auszusprechen.
Die Optionen der Kontrolle sind im liquid autonomy-System notwendigerweise an festgelegte Zeiträume, an Hürden wie Quoren und an klare Regeln gebunden. Ein Misstrauensvotum bedarf einer sehr hohen Hürde, so dass es sich tatsächlich um ein extremes Instrument. Die Verpflichtung einzelner Redaktionen, den Gebührenzahlenden in einer Feedbackschleife zur Verfügung zu stehen, muss sinnvoll operationalisiert sein, um beide gleichrangigen Ziele im Auge zu behalten, die Unabhängigkeit der Redaktion und das Recht der Gebührenzahlenden, zu gewissen Fragen gehört zu werden bzw Antworten zu bekommen. Und schließlich ist die Kontrolle der Finanzgebarung, von Mitteleinsätzen, der Erfüllung von Aufträgen, der Arbeitsbedingungen usw. jeweils sinnvoll so auszutarieren, dass die Masse der Gebührenzahlenden Einblick in die Verwaltung nehmen kann und die Arbeit in der Organisation nicht beeinträchtigt wird.
3. Partizipation
Diese Ebene unterscheidet sich von der ersten klar dadurch, dass verbindliche Entscheidungen mittels liquid autonomy-System getroffen werden. Ausgearbeitete Konzepte, die der ersten Ebene entspringen, können die Hürde auf diese Ebene nehmen. In der Regel wird jedoch über Gewichtungen abgestimmt werden, beispielsweise über Verteilungen von Ressourcen, Sendeplätzen in Programmschemata oder Raum und Positionen auf Web- oder Zeitschriftseiten, die Redaktionen zur Verfügung stehen, über anteilige Budgets, über zur Disposition gestellte Fördermittel und ähnliches.
Zur Abstimmung kommen ausgearbeitete Fragen, die zuvor eine Begutachtungsfrist im System durchlaufen haben, in denen Debatte und Änderungsanträge möglich sind. Zur Abstimmung kommende Fragen sind an Zeiträume gebunden. Über sie wird im jeweiligen Medium vorab berichtet.
Zum Beispiel könnte geregelt auf nur alle zwei Jahre der Schlüssel zur Abstimmung vorgelegt werden, wieviel Prozent Sendezeit vorgesehen ist für Sport im Verhältnis zu Information im Verhältnis zu Popkultur usw. Diese Schlüssel können nicht willkürlich bestimmt werden sondern in Bandbreiten. Entscheidungen wie bedürfen der Vorlaufzeit und sie wirken sich nicht sofort sondern in festgelegten Zeiträumen aus. Entscheidung liegen nie allein bei den Gebührenzahlenden, die nur innerhalb von Bandbreiten an Gewichtungen zu vorgelegten Fragen teilhaben, sondern ist aufgeteilt zwischen gesetzlichen Rahmen, Befugnissen der Verwaltung und der Redaktionen.
4. Bestellungen von Funktionen
Es ist nicht wünschenswert und mit diesem Modell dezidiert nicht vorgesehen, dass die Grundgesamtheit der Gebührenzahlenden zur Wahl stehende Anwärter_innen direkt in Funktionen sei es in Redaktionen oder der Verwaltung wählt. Wie Positionen besetzt werden, das ist allerdings von erheblichem Einfluss auf Fragen der Unabhängigkeit, der Transparenz, der Eignung und Verantwortlichkeit bis hin zur Gesamtstabiliät einer Organisation, dass ich darüber noch einen Absatz verlieren und die Gebührenzahlenden, ihr ÖR-Medium selbstverwaltenden einbeziehen will.
Im ersten Schritt geht es um die Vorauswahl von Bewerber_innen. Hier sind je nach Position Assessment-Center, Hearings und diverse Prozedere denkbar, entscheidend soll aber sein, dass es immer und für alle zu besetzenden Positionen die Journalist_innen sind, die ihre Kandidat_innen vorauswählen und Dreiervorschläge benennen. Wer als Journalist_in für ein ÖR-Medium wahlberechtigt ist, sollte übrigens nicht an der Bedingung einer fixen Anstellung hängen sondern wird dadurch definiert, ob eine Person im Durchrechnungszeitraum eines Jahres Content für das Medium produziert hat.
Im nächsten Schritt werden jeweils aus der Menge der Gebührenzahlenden und aus der Menge der Journalist_innen jene Wahlfrauen und -männer ausgesucht, die aus dem Dreiervorschlag in geheimer Abstimmung eine zukünftige Funktionsinhaber_in auswählen. Entfernt vergleichbar der zufälligen Auswahl von Geschworenen für Gerichtsverfahren, entscheiden zufällig ausgewählte Personen über die Bestellung von Positionen. Die Auswahl nach Zufallsprinzip sieht automatisch Quoten für die Repräsentation nach Geschlecht, Alter, Bildungsgrad, ethnisch-politische Minderheiten und Gebührenbefreite vor. Pro zu besetzender wichtiger Position wird über diesen Weg eine Gruppe von z.B. 100 Wahlberechtigten bestimmt, die zu 2/3 aus zufällig ausgewählten Gebührenzahlenden und zu 1/3 aus per Zufall ausgewählten Journalist_innen zusammengesetzt ist.
Im dritten Schritt werden die Dreiervorschläge im liquid-autonomy-System transparent präsentiert. Es gibt Wahlempfehlungen, Debatte, vielleicht Feedbackschleifen zwischen zur Wahl stehenden, den Gebührenzahler_innen und den Journalist_innen. Nach einer gewissen Frist erfolgt die Wahl durch die Wahlberechtigten auf Basis des Dreiervorschlags. Den größten Einfluss auf die Besetzung von Funktionen – Verwaltung wie Redaktionen – haben die Journalist_innen selbst, ein gewissen Einfluss hat der Zufall, etwas Einfluss haben die Gebührenzahler_innen. Politiker_innen, Kapital, die Verwaltungseinheiten oder mächtige Netzwerke sind weitgehend ausgeschlossen.
Ich möchte den Personen meinen Dank aussprechen, die sich in der frühen Konzeptionsphase Zeit zu Gesprächen mir genommen haben. Besonders hervorheben möchte ich in der Reihenfolge, in der die Gespräche stattgefunden haben, die freie Journalistin Sonja Bettel, dem Netzaktivisten Markus Stoff, den Mitherausgeber alternativer Zeitschriften Beat Weber, Medienökonom Paul Stepan, die Dokumentarfilmer_innen Ed Moschitz und Tina Leisch sowie dem Musiklabel-Chef Walter Gröbchen.