Interessenpolitik oder Identitätspolitik?
In den Analysen des Rechtsextremismus und Populismus der letzten 15 Jahre habe eine Auseinandersetzung darüber stattgefunden, worauf man deren Aufstieg zurückführen könne, erklärt Flecker eingangs. Zunächst lautete das Hauptargument, dass die Verlierer*innen der Globalisierung politisch von der extremen Rechten eingesammelt würden, es gehe also um eine Interessenpolitik. Später war man eher geneigt zu glauben, dass Anhänger rechter Ideologien das christliche Abendland bedroht sähen und es im Wesentlichen um nationale und religiöse Identitäten gehe.
Als Aufhänger liest Flecker ein paar Zeilen aus einem scheinbar harmlosen Standard-Interview vor: „Deutscher Ökonom sagt: Viele Menschen sehen sich in ihrer kulturellen Identität bedroht.“ Was da zum Ausdruck komme, halte er für höchst problematisch, so Flecker. Da heiße es weiter, dass Zuwanderung viele Ängste auslöse, die ökonomische Seite sei dabei nur ein Teil, viele Menschen fühlten sich in ihrer Identität, ihren Werten, ihrer Art zu leben, bedroht. Es gehe also um den Erhalt einer gesellschaftlichen Identität, entscheidend sei, ob die Zuwanderer integriert werden oder in Parallelgesellschaften landen.
An sich sei das kein überraschender Artikel, Ausdrücke wie „Parallelgesellschaften“ sind längst gängig. Flecker sieht das jedoch kritisch und fragt: Ist die Aussage „die Gesellschaft hat Angst ihre Identität zu verlieren“ eine Erklärung dafür, dass der Rechtsextremismus attraktiver wurde? Oder ist diese Sicht selbst ein Ausdruck der Ideologie des Rechtsextremismus, der in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist?
Die völkische Identität.
Dazu müsse zuerst die Frage geklärt werden, wie Identität in dem Kontext definiert ist. Festgemacht am Beispiel der FPÖ gehe es hier um eine völkische Identität. Im Parteiprogramm der FPÖ liege die Betonung auf „Österreich zuerst“, zudem bekenne man sich zu „unserem Heimatland Österreich als Teil der deutschen Kultur- und Sprachgemeinschaft.“ Der Hinweis auf eine deutsche Volksgemeinschaft, sagt Flecker, sei eine Zeit lang aus dem Programm genommen worden. „2011 wurde der Teil unter der Federführung eines gewissen Norbert Hofer wieder eingeführt.“
„Die europäische Rechte zeichnet ein sogenannter differentieller Rassismus aus“, sagt Flecker. Es werde nicht mehr die Überlegenheit einer Rasse über eine andere propagiert. Es gehe darum, dass Nationen, „die Rassen“, nicht vermischt werden sollen. Das wird ausgedrückt in der Forderung nach einem Europa der freien Völker und Vaterländer, der geschiedenen Nationalstaaten, um verschiedene Identitäten und Besonderheiten zu bewahren gegen Universalismus, Multikulturalismus und Entwurzelung. Ein zweites Merkmal ist der Ethnozentrismus, der sich in der Anti-Islam-Haltung ausdrückt. Ebenfalls ein Merkmal der europäischen Rechten sei der ökonomische Protektionismus, eine Anti-EU-Haltung, und seit etwa 15 bis 20 Jahren das Aufgreifen der Sozialen Frage.
Eine völkische Identitätspolitik sei also ganz klar im Angebot der extrem rechten Parteien und dieses Angebot sei ja nicht gerade erfolglos, so Flecker. „Heißt das, dass deswegen die Angst um die kulturelle Identität die Ursache des Aufstiegs ist?“ Er bezweifelt das.
Politik der Eliten für Eliten.
Flecker glaubt, dass es zu Interessenverletzungen von großen Bevölkerungsteilen komme, zu Verteilungskämpfen, Benachteiligungen und fehlender Anerkennung. Diese dahinterliegenden Probleme würden in einem Prozess der Problemverschiebung verlagert werden auf die Frage der Ausländerfeindlichkeit. „Wir haben einen verschärften Verteilungskampf mit dem Ergebnis einer Umverteilung nach oben.“
Statistischen Ergebnissen zufolge sind die Realeinkommen der österreichischen Arbeiter*innen zwischen 1998 und 2013 um vierzehn Prozent gesunken, so Flecker. Am Arbeitsmarkt seien Prekarisierungsprozesse zu beobachten, die eine Umverteilung nach oben begünstigen. Die derzeitige Arbeitslosigkeit sei im historischen Vergleich sehr hoch. Es wurde nie belegt, dass Arbeitslose positiver auf rechtsextreme Ideologien reagieren, betont Flecker. Allerdings bedeute es für viele, auch Beschäftigte, eine stärkere Bedrohung, da sie ersetzbar sind. Die Unsicherheit wachse, gerade seit Beginn der Krise 2008 und 2009, das Vertrauen in politische Institutionen nehme ab. „Ein weiterer Punkt, den ich für wichtig halte, ist die Schwächung und das Infragestellen des Sozialstaats“, sagt Flecker. Ebenfalls problematisch sei die Schwächung der Gewerkschaften, obgleich da Österreich nicht so betroffen sei. Flecker weist darauf hin, wie mit Krisenstaaten wie Griechenland umgegangen wurde: Von außen erzwungene Senkung von Mindestlöhnen, Arbeitslosengeld musste gekürzt werden und Pensionen wurden reduziert.
Durch solche Entwicklungen entstehe in der Bevölkerung der Eindruck: „Die da oben richten es sich.“ Banken werden gerettet, Milliarden verschoben und bei denen, die verwundbar und sozial schwach sind, wird eingespart. „Dieses alte Argumentationsmuster des Rechtspopulismus erfährt da unglaubliche Bestätigung.“?
Die wichtigen Themen.
Flecker sieht daher die Interessenpolitik als Motor für den Aufstieg der Rechten in Europa; die Angst der Menschen als Verlierer der Globalisierung auf der Strecke zu bleiben. Vielen erscheine die Versorgung von Menschen auf der Flucht als Provokation. Die Flüchtenden bekommen alles und ihr bleibt übrig, sei das von Rechten gezeichnete Bild. Die Menschen empfinden Machtlosigkeit und haben den Eindruck, dass bestimmte Lebensbereiche politisch nicht mehr gestaltet werden können. Da wirkt das Versprechen der Rechten, Politik und Gesellschaft aufzumischen, anziehend. Die Diskrepanz zwischen dem Versprechen und der Realpolitik kommt bei den Wählern oft nicht an, da das politische System nicht transparent genug ist.
Am Ende kommt Flecker nochmals auf die Frage der Identität zurück und erklärt: „Wenn alles rundherum schlecht ist, kann ich mich an etwas aufrichten, was naturgegeben ist“, so funktioniere diese Identität. „Ich bin Österreicher, ich bin ein Mann usw.“ Seines Erachtens sei das aber nicht der Hauptpunkt für das Anhängen einer rechten Ideologie. Er antwortet in den Worten des Soziologen Hans Georg Zilian: „Zuwanderer sind für die einheimische Unterklasse eine Konkurrenz und für die Eliten eine willkommene Entlastung und Bereicherung.“?
Die Sprache des Rechtspopulismus.
Zurückblickend auf die Anfangsfrage, fasst Flecker zusammen, dass wir in einer sehr differenzierten Gesellschaft leben, die durch Wertepluralismus und eine Vielfalt an Lebensstilen gekennzeichnet sei. „In diesem Kontext finde ich es völlig abstrus, von Parallelgesellschaften zu reden, wo doch die Gesellschaft in so viele Teile zerfällt und gespalten ist.“ Auch die Frage der Bedrohung der individuellen Identität durch andere findet er unsinnig. Als Schnitzelesser sei seine Identität ja auch nicht bedroht von Veganer*innen. Wenn man von kultureller Identität spreche, dann setze man ein Konzept von völkischer Identität voraus. Und da müsse man aufpassen, die Sprache der Rechten nicht zu übernehmen. „Denn das hat dem Rechtsextremismus Tür und Tor schon sehr weit geöffnet.“?
Die Autorin Sarah Nägele studiert Journalismus und Neue Medien an der FH Wien und ist Mitglied des GBW Redaktionsteams.