Jenseits des Tellerrands. Was Europa von Brasilien lernen könnte.
Michael Schwendinger
Zum Thema „Von Lateinamerika lernen: Binnen- statt Exportorientierung?“ begrüßt Andreas Novy, Obmann der Grünen Bildungswerkstatt (GBW), am 31. März das zahlreich erschienene Publikum im Bildungszentrum der Arbeiterkammer Wien (AK). Die Veranstaltung gehört zur Reihe „Die Zukunft Europas“, einem Kooperationsprojekt von acht Institutionen. Als Gäste geladen waren Marcio Pochmann von der politischen Bildungseinrichtung der brasilianischen Arbeiterpartei, Özlem Onaran von der University of Greenwich und Oliver Prausmüller von der AK. Monika Kalcsics von Ö1 moderierte.
Aus Diktatur mach Demokratie und soziale Gerechtigkeit.
Just vor 50 Jahren, am 31. März 1964, setzte ein Militärputsch den Demokratisierungsprozess Brasiliens für Jahrzehnte außer Kraft, beginnt Marcio Pochmann seine brasilianische Skizze. Als weiteren Meilenstein der Geschichte nennt er das Jahr 2002, als Luiz Inácio Lula da Silva mit der Arbeiterpartei (PT) das politische Ruder übernahm. Von da an habe sich vieles verändert. So schaffte es Brasilien entgegen dem internationalen Trend, die soziale Ungleichheit im Lande zu verringern und die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Brasilien habe es in einer Zeit globaler Krisen und der „Rekonfiguration des Kapitalismus“ geschafft, einen alternativen Weg einzuschlagen und aus der eigenen Vergangenheit Lehren zu ziehen. Die während der 1980er Jahre aufgezwungene Politik der Deregulierung, Handelsliberalisierung und Exportorientierung sei kläglich gescheitert. Als wichtigste Veränderung seit 2002 nennt Pochmann daher die „Wiedererfindung des Binnenmarkts“, kombiniert mit einer Veränderung der Sozialstruktur. Wo vorher monopolistische Konzerne die kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs) an die Wand spielten, gab es nun Rückendeckung seitens der Regierung. Öffentliche Aufträge, auch im Zusammenhang mit der Fußball-Weltmeisterschaft 2014, seien verstärkt an KMUs gegangen. In Sachen Sozialstruktur lag der Fokus auf dem Kampf gegen Armut. Sozialer Wohnbau subventioniert einkommensärmere Schichten und steigert somit gleichzeitig deren Konsumnachfrage.
Wachstum, Verteilung, Henne und Ei.
Vorher, so die pointierte Zusammenfassung der politischen Doktrin, sei die Strategie „Wachstum für Umverteilung“ verfolgt worden. Lula drehte die Dinge um, woraus „Umverteilung für Wachstum“ entstanden sei.
Natürlich verursachen derart gravierende soziale Veränderungen Spannungen. Dass die Umverteilungspolitik für Beunruhigung bei der vormals stark privilegierten Oberschicht sorge, sei kein Wunder. Trotz allen bislang umgesetzten Reformen stehe Brasilien heute vor großen Herausforderungen. „Das, was am leichtesten zu tun war, wurde schon gemacht“, meint Pochmann. Nun stünden jedoch Reformen an, die ans Eingemachte des politischen Systems und die bislang unangetasteten Privilegien gehen. Sechs Familien dominieren die gesamte Medienlandschaft. Eine kleine Minderheit an Großgrundbesitzer*innen kontrolliere über die Hälfte der landwirtschaftlichen Flächen sowie viele Kongressabgeordnete, während Millionen Kleinbäuer*innen kaum Mitspracherechte hätten. Das zu verändern sowie eine weitreichende Steuerreform, nennt Pochman daher als zentrale zukünftige Herausforderungen.
Europa: Aufwachen.
So weit, so gut. Nun lenkt Monika Kalcsics den Blick zurück auf Europa und bittet um Hinweise, was aus dieser brasilianischen Geschichte zu lernen sei.
Ökonomin Onaran fängt damit an, dass es in Europa fraglos einen breiten Konsens für soziale Gerechtigkeit gebe. Wo die Meinungen auseinander gehen, sei allein die Frage: wie erreichen? Dabei könnten wir viel von Brasilien, aber auch von unserer eigenen, europäischen Geschichte lernen. Jahrzehntelange neoliberale Politik habe uns dorthin gebracht, wo wir jetzt stehen und Brasilien habe gezeigt, was ein Umdenken bewirken kann. Ergo sei die Sache beileibe keine „rocket science“. Laut Onaran müssten Reformen den Staat sowie Arbeiter*innen und Gewerkschaften stärken und die Macht der Finanzmärkte beschneiden. Da Europas Nachfrage nachweislich „lohngetrieben“ sei, würde auch uns eine Umverteilungspolitik aus der Krise führen.
Für kurzfristige Reformen schlägt Onaran eine „Strategie der Brüche“ vor. Durch tiefgreifende Steuerreformen müssten die Staatsfinanzen auf eine solide Basis gestellt werden. Die Legitimität des staatlichen Schuldendiensts könnte hinterfragt werden und der Staat die Banken stärker an die Leine nehmen. Langfristig gesehen bedürfe es einer koordinierten öffentlichen Investitionspolitik. Zudem brauche es neue zeitgemäße Arbeitsplätze im Dienstleistungs- und Versorgungsbereich, kombiniert mit einer erheblichen Verkürzung der Arbeitszeit.
Die absurde Demokratie retten.
Oliver Prausmüller stimmt Onaran völlig zu. Was neoliberale Umstrukturierung bringe, lassen sowohl die „verlorene Dekade“ der 1980er Jahre in Lateinamerika, als auch die aktuell verfolgte Austeritätspolitik in der EU unschwer erkennen. Allerdings unterscheide sich das europäische Verständnis den Binnenmarkt zu stärken, verhängnisvoll von den Ausführungen Pochmanns. Anders als in Brasilien seien in Europa damit oft „marktschaffende Maßnahmen“ gemeint, wie die Privatisierung von Wasser. Insofern stelle sich die Frage, was überhaupt die Basis einer gemeinsamen EU-Politik sei. Bislang sehe es eher nach einer „goldenen Zwangsjacke“ oder einem „neoliberalen Korsett“ aus, wie die eiserne Sparpolitik sowie das derzeit verhandelte Freihandelsabkommen mit den USA zeigen.
Prausmüllers Vorschlag für Reformstrategien setzt somit noch einen Schritt vor jenem Onarans an: „Handlungsspielräume erweitern“, also nichts weniger als „die Demokratie in Europa retten!“ Es sei absurd und bedenklich, dass sich in Europa viele Bürger*innen vehement gegen den neoliberalen Kurs wenden und die EU gleichzeitig mit den USA verhandelt, ohne etwa die stark diskutierte Transaktionssteuer überhaupt anzusprechen. Wenn die Austeritätspolitik nicht durchbrochen werden könne, sei auch für die EU die „Frage der verlorenen Dekade keine Frage mehr“, so Prausmüller.
Wie so oft musste auch dieses anregende Gespräch beendet werden, ohne alle anstehenden Fragen gebührend behandeln zu können. Eines ist jedoch nichtsdestotrotz klar geworden: Musterschülerin ist Europa schon lange keine mehr. Abschauen also durchaus erlaubt.
Der Autor, Michael Schwendinger, hat Internationale Entwicklung und Volkswirtschaft studiert und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.