Johanna Biesenbender, Sigrid Gerl, Johann Strube und Monika Thuswald - Die Subsistenzperspektive - eine Umorientierung zum Guten Leben für alle
Die Subsistenzperspektive [1] hat als Mittelpunkt eine konkrete Vorstellung von einem Guten Leben für alle. Sie bietet seit Jahrzehnten die Basis für kritische Analysen wirtschaftlicher Entwicklungen sowie Inspiration für konkretes Tun. Dieser Text möchte die Potentiale dieses Ansatzes aufgreifen, um ihn in einen fruchtbaren Austausch mit anderen Konzepten zu bringen.
Im Gegensatz zur Profitorientierung des Kapitalismus beschreibt Subsistenzorientierung das Streben nach allem, was für ein zufriedenes und erfülltes Leben notwendig ist. Die Subsistenzperspektive ist kein revolutionärer, utopischer Zukunftsentwurf, sondern fordert den hegemonialen Kapitalismus durch die Wertschätzung, Unterstützung und Weiterentwicklung bestehender Subsistenzpraxen heraus. Sie ist kein statisches Theoriegebäude, sondern ein Lebenswelt-naher Denkrahmen für die Analyse von Gewesenem und Bestehendem sowie für eine Zukunftsperspektive, die immer wieder mit aktuellen Debatten und Entwicklungen in Beziehung tritt.
Vom "Aus-sich-heraus-Bestehen"
Lateinisch „subsistere“ bedeutet: was aus sich selbst heraus Bestand hat. Somit ist Subsistenz das, was wir zum Leben brauchen und was aufgrund der gegebenen Lebenskraft existiert und sich fortsetzt. „Subsistenzproduktion - oder Lebensproduktion - umfasst alle Arbeit, die bei der Herstellung und Erhaltung des unmittelbaren Lebens verausgabt wird und auch diesen Zweck hat. Damit steht der Begriff der Subsistenzproduktion im Gegensatz zur Waren- und Mehrwertproduktion. Bei der Subsistenzproduktion ist das Ziel ,Leben’. Bei der Warenproduktion ist das Ziel Geld, das immer mehr Geld ,produziert’, oder die Akkumulation von Kapital. Leben fällt gewissermaßen nur als Nebeneffekt an“.[2]
Subsistenz ist alles, was notwendig ist für ein zufriedenes und erfülltes Leben - im Gegensatz zu Gewinnstreben, Konkurrenz und Umweltzerstörung. Subsistenz meint gutes Essen und Trinken, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Bildung, Feiern, Geselligkeit, Kultur, Fürsorge sowie wertschätzende, gemeinschaftliche Beziehungen, die auf einem friedfertigen Umgang mit der Erde beruhen. So verstehen wir unter Subsistenzperspektive eine Umorientierung des gesamten Wirtschaftens auf das Notwendige – auf das Notwendige für ein genussvolles, lustvolles und fröhliches Leben. Die Subsistenzperspektive fragt danach, wo Ansätze für ein „Gutes Leben für alle“ schon da sind, wo und wie diese bestärkt und ausgeweitet werden können. Sie fragt nach den Prinzipien, nach denen wir handeln, wenn wir unseren Alltag und unsere Beziehungen leben.
Subsistenz meint nicht autarke Selbstversorgung, sondern wertschätzende, gemeinschaftliche Austausch- und Schenkbeziehungen, die ein Leben in Fülle zum Ziel haben. Subsistenz ist also alles, was wir zum Leben brauchen „damit das Leben weitergeht, wie es die Bäuerin Gertrud Mies ausdrückte“. [2] Sie wusste, dass nur, wenn mit der Natur mitgewirkt wird, das Leben weitergehen kann.
Von der Kolonisierung des Südens, der Frauen und der Natur hin zur Subsistenzperspektive
Die Subsistenzperspektive und die damit verbundene Vorstellung von einem „Guten Leben für alle“ wurde wesentlich von Veronika Bennholdt-Thomsen, Maria Mies und Claudia von Werlhof mitentwickelt. Es ist ihre besondere Leistung, dass sie seit Anfang der 70er Jahre die Situation der Frauen in Europa, Erfahrungen in Ländern des Südens und das Naturverhältnis in der Maximierungsökonomie zusammendachten und strukturelle Ähnlichkeiten und Zusammenhänge aufzeigten.
Bei ihren anthropologischen Forschungen in Indien, Mexiko, Venezuela etc. erlebten sie, mit welcher Kundigkeit viele Menschen lokal angepasst ihr „Gutes Leben“ - ihre Subsistenz - organisieren. Dies stand in starker Diskrepanz zum zunehmend erstarkenden Paradigma der „Entwicklungshilfe“, welche zum Ziel hatte, „unterentwickelte Länder“ aus der „Armut“ herauszuführen. So wurde rasch klar, dass es bei „Entwicklung“ und den damit verbundenen „Strukturanpassungsmaßnahmen“ um Eingliederung in den kapitalistischen Weltmarkt zum Zwecke des Profits für wenige geht und nicht um ein Gutes Lebens für alle.[3]
Daraufhin begannen die Frauen, aufbauend auf dem Werk von Rosa Luxemburg,[4] die Subsistenz in ihre Analyse des Kapitalismus mit einzubeziehen.[5] Demnach beruhen die Akkumulation von Kapital und das Wirtschaftswachstum nicht nur auf der Ausbeutung der Lohnarbeit (auf Basis gegenseitiger Vereinbarung), sondern auch auf der gewaltsamen Ausbeutung der Natur, der Frauenarbeit und der Kolonien in den angeblich „unterentwickelten“ Ländern. Alle diese „drei Kolonien“, die sich unmittelbar der Herstellung und dem Erhalt von Leben widmen, stehen scheinbar unbegrenzt und kostenlos zur Verfügung. Dies erklärt in weiterer Folge, warum Frauen für dieselbe Arbeit weniger Lohn bezahlt wird als Männern.
Bennholdt-Thomsen, Mies und Werlhof [6] sagten richtig voraus, dass weitere „(aufholende) Entwicklung“, Wirtschaftswachstum und technischer Fortschritt die soziale Ungerechtigkeit nicht beseitigen werden, sondern im Gegenteil immer mehr Hunger, Elend und Prekarität (auch bei den Lohnarbeitenden in Europa) erzeugen werden. Auch der „aufholende" Gleichstellungsfeminismus berührt die Wurzeln der ausbeuterischen Geschlechterverhältnisse wenig. Auf der Suche nach neuen Befreiungsperspektiven entwickelten die Feministinnen Anfang der 1980er Jahre die Subsistenzperspektive als positive Zukunftsvision. Für die Überwindung von patriarchaler und kapitalistischer Herrschaft braucht es eine Umorientierung aller Geschlechter, hin auf ein Gutes Leben für alle. [3]
Wo Subsistenz zerstört wurde und wird...
Die Geschichte der Subsistenzperspektive ist direkt verbunden mit der Geschichte der Zerstörung von Subsistenz, ohne welche die Subsistenz der Menschen heute die Grundlage der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wäre. Die Subsistenzperspektive versucht also, Subsistenz wieder in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Analyse und Entwicklung zu rücken.
Bereits in der griechischen Antike erfuhr die Subsistenzproduktion wenig Wertschätzung. An den dortigen politischen Debatten - immerhin der Grundstein der abendländischen Demokratie - konnten nur „freie" Männer teilnehmen, für deren Subsistenz Frauen und Sklaven sorgten.[2] Während im Mittelalter die Obrigkeit versuchte, die Subsistenzwirtschaft zu kontrollieren, bekam dieser Prozess im Zeitalter der Industrialisierung im 19. Jahrhundert eine neue Dynamik. Die aufsteigenden Industrien waren auf die Aneignung der subsistenzreproduzierten bäuerlichen Arbeitskraft und auf die unbezahlte Hausarbeit der Frauen angewiesen. In die gleiche Logik und Zeit fällt die gewaltsame Kolonisierung großer Teile Afrikas, Amerikas und Asiens.
Ab 1945 wurde der Angriff gegen die Subsistenz nochmals wesentlich verschärft: Ivan Illich[7] spricht hier von einem „Krieg gegen die Subsistenz“. Dem Paradigma der Wachstums- und Maximierungsökonomie wurde unter dem Label der „Entwicklungshilfe“[8] zunächst in Europa, dann in Mittel- und Südamerika und in anderen Teilen der Welt zur Vorherrschaft verholfen. Im Gegenzug für Kredite (z.B. von IWF, Weltbank etc.) wurden sogenannte „Strukturanpassungsmaßnahmen“ gefordert, wesentlich zur Zerstörung bzw. Einhegung der Subsistenz beitrugen. Oft ging es dabei ganz konkret darum, vormals unabhängige (Klein-)BäuerInnen in die zerstörerischen Mühlen des Weltmarktes einzugliedern.
Diese Mechanismen setzen sich heute in der europäischen Austeritätspolitik und den Sparauflagen z.B. gegenüber Griechenland fort.[9] Andere Instrumente zur Durchsetzung des neoliberalen Kapitalismus sind z.B. rigorose Hygiene-, Aufzeichnungs- und Kontrollauflagen, welche eigentlich für die Industrie konzipiert sind, aber auch BäuerInnen aufgezwungen werden oder Gesetzgebungen in Bezug auf Saatgut, die große Konzerne wesentlich bevorzugen. Am Beispiel der EU-Saatgutverordnung zeigt sich jedoch auch, dass kollektiver Widerstand der Zivilbevölkerung Gesetze verhindern kann. Aktuell richtet sich dieser Widerstand gegen das geplante Freihandelsabkommen TTIP, das nochmals verstärkt den Profit über das Allgemeinwohl stellen würde - diesmal nicht nur in den Ländern des Südens, sondern auch in Europa.
Auf die Sinne, die Schönheit und die Vielfalt ausgerichtete Alltags- und Wirtschaftskultur
Subsistenzproduktion als Grundlage des Lebens ist die Basis jedes Wirtschaftssystems. Der Kapitalismus ist darauf angewiesen, sich Subsistenz anzueignen. Betrachten wir nun die Bereiche der Subsistenzproduktion genauer, stellen wir eine enorme kulturelle Vielfalt fest. Darunter fallen die Alltagskultur, die Vielfalt der Nahrungszubereitung, die Schönheit der Hausgärten, das gemeinsame Feiern, liebevolle Beziehungen und vieles mehr.
Dabei geht die Subsistenzproduktion über die technische Sphäre der Reproduktion der (Lohn)Arbeitskraft weit hinaus. Deshalb sprechen wir auch von „Subsistenzkultur“, welche auf die Sinne, auf Schönheit und Vielfalt ausgerichtet ist. So zeigt z.B. eine landschaftsplanerische Studie,[10] wie und mit welcher Geisteshaltung Frauen im Mostviertel eine große Vielfalt von Wirtschaftsäpfeln kultivieren. Die Bäuerinnen wissen um die Eigenschaften der einzelnen Apfelsorten, um ihre Verwendung vom Apfelstrudel bis zum Most und über die Lieblingssorte jedes Familienmitgliedes genau Bescheid. Dies macht aus betriebswirtschaftlicher Logik wenig Sinn, aus einer Subsistenzorientierung heraus aber sehr wohl. Aber auch die Architektur bäuerlich-landwirtschaftlicher Gebäude verrät uns einzigartige Geschichten über die Menschen, die dort leben, ihre Handwerkstechniken und die geografischen Besonderheiten. Subsistenzkultur ist daher überall auf der Welt verschieden. KunsthandwerkerInnen stellen nicht nur funktional nützliche Gegenstände her, sondern verzieren sie auf individuelle Art und Weise. In der Subsistenzkultur verschwindet die künstliche Trennung zwischen Kultur und Produktion, zwischen Muße und Arbeit.
Wenn wir den Blick auf Subsistenzproduktion und Subsistenzkultur werfen, stellen wir fest, dass diese in Subsistenzwirtschaften verankert sind. Entgegen dem gängigen Vorurteil, Subsistenzproduktion sei synonym mit Eigenbrötelei, ist diese fast immer in kooperative Austauschverhältnisse eingebettet. Materielle Güter, welche ausgetauscht werden, können ein Trägerstoff für die Pflege sozialer Beziehungen und die Festigung von Gemeinschaft sein. Gleichzeitig können soziale Beziehungen die Art des Austausches prägen - wie sich am Beispiel von „eingebetteten“ Märkten zeigen lässt. Subsistenzwirtschaft und Subsistenzkultur sind also nicht voneinander zu trennen.[11]
Markt ist nicht gleich Markt, Geld ist nicht gleich Geld
Mit Subsistenz meinen wir also nicht autarke Selbstversorgung. Wir orientieren uns an einem historischen Subsistenzbegriff: Demnach gehört zum „Aus-sich-heraus-Bestehen“ in vielen Teilen der Welt seit Jahrtausenden auch der Austausch auf lokalen, regionalen und, davon ausgehend, überregionalen Märkten. Markt ist jedoch nicht gleich Markt. Der Markt in der nach ihm benannten kapitalistischen Marktwirtschaft dient vorrangig der Profitmaximierung. Es gibt jedoch auch Märkte, die dem Austausch von Waren im Kontext einer arbeitsteilig organisierten Versorgung dienen und deren Ziel ein gutes Aus- und Einkommen für alle Beteiligten ist.
Eines von vielen Beispielen dafür ist der Markt in Juchitán in Mexiko, wo eine umfassende, gemeinschaftliche Verbindlichkeit den Handel bestimmt und die Preise sich nach einem komplexen System des sozialen Ausgleichs richten. In Juchitán ist die ganze Stadt ein großer, arbeitsteiliger Haushalt. Obwohl der Handel mit mexikanischen Pesos organisiert ist, bleiben sowohl das Geld, als auch die Regeln des Marktes, gesellschaftlich eingebettet. Der Markt in Juchitán hat eine klare Verteiler- und Umverteilerfunktion.[12] Geld ist also auch nicht gleich Geld. Es macht einen Unterschied, ob Geld als Tauschmittel verwendet wird, während wir an der konkreten Subsistenz orientiert sind, oder ob wir uns abstrakt am Geld orientieren.[13], [14]
Ein weiteres Beispiel, wie gesellschaftliche Arbeitsteilung heute in Richtung eines Guten Lebens für alle entwickelt werden kann, ist Community Supported Agriculture (CSA bzw. gemeinschaftlich getragene Agrikultur). Immer mehr Menschen organisieren sich als CSA-Gemeinschaft, mit der Idee großzügige und solidarische Beziehungen zu leben. Die Gemeinschaft teilt untereinander die Kosten für die Bewirtschaftung. Die Ernte an Gemüse und Obst wird nicht mehr nach Stück oder Kilogramm verkauft, sondern unter den Mitgliedern fair verteilt. Die CSA-Gemeinschaft bietet darüber hinaus das Potential, dass hochqualitative Lebensmittel nicht nur finanziell starken Menschen zur Verfügung stehen, sondern verschiedene Menschen mit unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten daran teilhaben.
Angst vor Knappheit oder Leben in Fülle?
Im Gegensatz zum herrschenden Wirtschaftssystem, welches auf der Grundannahme von Knappheit - nämlich auf unbegrenzten menschlichen Bedürfnisse versus beschränkten Ressourcen - beruht, stellt die Subsistenzperspektive die Fülle der Gaben der Natur und die Befriedigbarkeit der menschlichen Bedürfnisse der angenommenen Knappheit entgegen. Vorausgesetzt wir wissen um das „Genug“ und unsere wahren lebenswichtigen Bedürfnisse. Subsistenz meint nicht Verzicht, sondern Lebensfreude - gewonnen aus dem bewussten Leben und unseren gelebten Beziehungen heraus und nicht aus dem Konsum von Waren, die wir nicht wirklich brauchen und die darüber hinaus noch unter ausbeuterischen Bedingungen produziert werden.
Ein Symbol der Fülle der Natur ist der Garten.[15] In vielen Kulturen gehörte und gehört ein Garten immer mit zum Haus und bildete in Zusammenhang damit die Grundeinheit des Wirtschaftens. „Ökonomie“ bedeutete ursprünglich Hauswirtschaft - nicht die Lehre vom Markt - sondern die Lehre vom Haus.[16] Die Wertschätzung der eigenen Produktion, der Natur und ihres Reichtums an Gaben, die Wertschätzung der eigenen Versorgung und die Möglichkeit andere aus der Fülle heraus zu beschenken, zeigen ein Umdenken, das in vielen Menschen stattfindet. Dies macht auch der Boom zu Gemeinschaftsgärten in Städten deutlich.
Ein Garten bringt vieles hervor, was wir zum guten Leben brauchen.[17] „In der Subsistenzperspektive ist der Garten eine ständige Quelle der Freude, der Erholung, der Ruhe und des sinnlichen Lebensgenusses“, beschreibt Maria Mies[18] die Lehren, die sie aus dem Garten zieht: „Die Natur bringt eine Fülle hervor, sodass man immer zu viel hat und teilen und verteilen muss. Der Garten ist kein Produktionsort, sondern ein Ort der Begegnung neuer großzügiger nachbarschaftlicher Beziehungen von Menschen zu Menschen.“ Gemeinsames Tun im Garten ist also eine Möglichkeit zu erfahren, was Subsistenz konkret heißt.
Vom Hegen und Pflegen in der bäuerlichen Kultur
In der Gartenkultur und in der bäuerlichen Landwirtschaft sind - mehr als in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen, auch in Europa - nach wie vor viele Prinzipien von Subsistenzorientierung zu finden. Das Sorgende und Nährende wurde im Laufe der europäischen Geschichte als gesamtgesellschaftliches Prinzip entmachtet und vor allem an Frauen und (Klein)BäuerInnen delegiert. In der bäuerlichen Kultur und in der Gartenkultur wurden Haltungen, Wissen und Erfahrungen um subsistenzorientiertes Handeln bewahrt, weiterentwickelt und weitergegeben. Diese können uns hier und heute wichtige Wegweiser sein. Es geht zum Beispiel darum, sich in natürliche Kreisläufe eingebunden zu fühlen, Vielfalt wertzuschätzen und zu erhalten, handwerkliche Fähigkeiten zu kultivieren, sorgsam und pfleglich mit Boden, Luft und Wasser umzugehen und ein Bewusstsein für „genug" zu entwickeln etc..[19] Die bäuerliche Kultur und Wirtschaftsweise sind dabei von ihren Grundprinzipien her nicht kolonialistisch und können daher ein Vorbild für die Ausrichtung anderer Wirtschaftsbereiche sein. [3]
Was wir also für eine subsistenzorientierte Gesellschaft brauchen, sind Menschen, die sich wieder zunehmend an den Prinzipien des bäuerlichen Wirtschaftens orientieren. BäuerInnen, GärtnerInnnen, HandwerkerInnen, Heilkundige etc., die sich dessen bewusst sind, wie zukunftsträchtig und wegweisend ihre Wirtschaftsweise und ihr Wissen sind, und die ihre Erfahrungen und ihre Weltsicht selbstbewusst vertreten. Gleichzeitig braucht es eine Gesellschaft, die sie dabei unterstützt, wertschätzt, von ihnen lernen will und als Gesamtes das Gute Leben für alle in den Fokus rückt.
Der Wandel in uns
Die Subsistenzperspektive liefert keine fertigen Rezepte für gesellschaftlichen Wandel, sondern plädiert vielmehr dafür, den individuellen und gesamtgesellschaftlichen Fokus zu verlagern: Hin zu jenen Dingen, die für ein Gutes Leben für alle wichtig sind. Daraus ergeben sich viele Ansätze für (alltags)politisches Handeln.
Es gibt viele Beispiele von gesellschaftlicher Organisation und konkreten Aktivitäten auf der ganzen Welt, die uns dabei inspirieren können. Von der (klein-)bäuerlichen Landwirtschaft, der Gartenkultur und dem Markt in Juchitán als Inspirationsquellen haben wir bereits gesprochen. Ein weiteres Beispiel ist die Hacker- und Do-it-yourself-Szene, die anstatt vorgefertigten Konsummustern zu folgen, eigene Lösungen für die konkreten Bedürfnisse ihrer Mitglieder entwickelt und Pläne zum Nachbauen und Verändern kostenlos zur Verfügung stellt. Weiters können Tauschringe, Schenkringe und Kostnixläden, die in immer mehr Städten und Gemeinden entstehen, als Beispiel gelebter Subsistenzmärkte verstanden werden. Mitglieder tauschen Geräte, Waren und Dienstleistungen untereinander mit dem Ziel, die Bedürfnisse aller abzudecken anstatt sich individuell zu bereichern.
Unsere Zukunftsvision ist eine Welt, in der Profit, Geld und Maximierung des Eigeninteresses keine Rolle mehr spielen, sondern ein Gutes Leben für alle umgesetzt wird. Sorgendes Handeln jenseits von ökonomischer Logik passiert in fast jedem Haushalt. Auch wenn die Beteiligten dies nicht in einem politischen und wirtschaftlichen Kontext sehen, bietet dieses Tun Anknüpfungspunkte für gesellschaftlichen Wandel. All dies sind gelebte Traditionen, die Wege in die Zukunft eines Guten Lebens für alle weisen.
Unter dem Konzept "Buen Vivir" - gut leben - erstarkte in den letzten Jahren eine Bewegung, die das Gute Leben, die Subsistenz, als Grundlage des Zusammenlebens fordert. Ausgehend von indigenen Vorstellungen zum gemeinschaftlichen Leben und zum Umgang mit der Natur und als Reaktion auf den südamerikanischen Neoliberalismus, ist das Buen Vivir mittlerweile in den Verfassungen Boliviens und Ecuadors verankert. [20] „Buen Vivir“ fußt auf der indigenen Weltsicht in den südamerikanischen Anden: „Das Gute Leben ist im Kern der Lebensprozess, der einer Gemeinschaft von Völkern entspringt, die in Harmonie mit der Natur leben“. [21]
Veränderung beginnt im Kopf
Der Glaube an das Fortschritts- und Wachststumsparadigma, an das Geld und das Finanzsystem, an den Individualismus und die Prinzipien des Patriarchats sind sehr tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Hier sind wir gefordert, uns individuell und kollektiv dieser Gehirnwäsche zu entziehen und uns zu entkolonialisieren. Wir müssen uns befreien von den Drohungen, die Hunger und Chaos vorhersagen, wenn die Wirtschaft nicht weiter wächst. Subsistenzperspektive bedeutet für uns ganz wesentlich Entkommerzialisierung: Sich nicht abstrakt am Geld zu orientieren, sondern an dem, was man selbst und andere konkret benötigen, taucht alle Entscheidungen in ein neues Licht. [13]
Zu diesem Wandel im Kopf gehört auch ein neues Naturverhältnis. Es geht darum, die Wertschätzung für natürliche Zyklen zu stärken, welche uns die Subsistenz, als das Bestehen aus sich heraus, die Fülle und das Leben in Gemeinschaft lehren. Wir müssen wieder lernen, die natürlichen Kreisläufe gewähren zu lassen, sie zu hegen und zu pflegen.
Die Subsistenzperspektive zeigt einen Weg in Richtung eines Guten Lebens für alle auf. Dabei ist es wichtig, dass wir dem neoliberalen kapitalistischen Wirtschaftssystem schrittweise immer mehr Lebensbereiche entziehen. Somit gewinnen wir zunehmend mehr Freiheit, um auch eine Zukunft abseits von Wachstumsökonomie denken zu können. Alle Lebensbereiche, besonders aber jene, die essenziell die Basis für ein Gutes Leben bieten, müssen unabhängig von Profitorientierung, Weltmarkt, Börse und Finanzspekulation organisiert werden (können). Weiters müssen Privatisierungen von Wasser, Wald, Luft, Land, Saatgut, Wissen, Infrastruktur, Bildung etc. aufgehalten bzw. rückgängig gemacht werden und stattdessen Formen der Selbstverwaltung im Sinne von „Allmenden“ oder „commons“ erprobt und weiterentwickelt werden.
Gar nicht so kleine Teile unserer aller Leben funktionieren nicht nach den Spielregeln der neoliberalen Marktwirtschaft und auch nicht der sozialistischen Planwirtschaft. Es gilt zu erkennen, wo Subsistenz (bei uns in Wien, Österreich, Europa, im globalen Norden, auf der Welt) nach wie vor vorhanden ist und diese zu verteidigen. Es ist weder sinnvoll noch notwendig, eine neue, gerechtere Welt auf dem Reißbrett zu entwerfen, sondern konkrete Praxen, bei denen das Gute Leben für alle im Fokus steht zu erkennen, wertzuschätzen und auszubauen. Oder, um es mit den Worten von Raul Zibechi[22] und der andinen Philosophie zu sagen: „Das Neue existiert bereits im Alten“. Es geht nicht um eine „tabula rasa“ oder eine Revolution, sondern um einen Wandel, eine Erneuerung, um die Schaffung eines neuen Ausgleiches.
(Frei)Räume schaffen, damit das Gute Leben sich entfalten kann
Es gilt zu verstehen, unter welchen Rahmenbedingungen sich die Subsistenz gut entfalten kann und Subsistenztätigkeiten Freude machen. Ganz praktisch braucht es dazu (Frei)Räume, Infrastruktur und Zeit für Subsistenz(tätigkeiten). Räume für Subsistenz müssen auf der Ebene von Gebäuden, Stadtteilen, Gemeinden, Regionen ganz konkret (ein)geplant, gebaut, organisiert und erkämpft werden: Seien es Räume für Haushaltstätigkeiten im Mietshaus wie Speisekammer, Wäscheleine, Kräuterbeet, Platz für Fahrräder und Kinderwägen oder Gemeinschaftsgärten, Küchengärten, Lokale für selbstverwaltete Werkstätten, Cafés, Kindergruppen, Lernräume, nicht-kommerzielle Aufenthalts- und Kommunikationsräume etc.
„Die Subsistenzpolitik ist die Politik des Alltags von ‚unten‘, vom verantwortungsbewussten Individuum her getragen, die den Weg aus der Wachstumsökonomie weist“.[3] Gleichzeitig geht es darum, sich gegen die Individualisierung zu wehren, in welche wir im neoliberalen Kapitalismus hineintrainiert werden. Wir brauchen kollektive Strukturen, einerseits um füreinander zu sorgen, und andererseits, um Widerstand gegen das vorherrschende Wirtschaftssystem zu leisten. Dabei geht es immer darum, die Spielräume in der lokalen Gemeinschaft zu nutzen und auszuweiten und gleichzeitig strukturelle Änderungen zu erwirken.
In diesem Sinne müssen wir der „Männerhauspolitik“ [3] die Macht entziehen, die wir ihr immer wieder neu zuschreiben, und uns lernend an Subkulturen und indigenen Kulturen in Europa und in anderen Teilen der Welt wenden. Zum Beispiel können wir in Richtung der Anden schauen, wo in der indigenen Tradition Macht nicht zentralisiert ist, sondern in Form von Netzwerken und Gemeindeversammlungen aufgeteilt, Entscheidungen im Konsens getroffen und Funktionen turnusmäßig besetzt und wichtige Ämter in Gemeinschaft von Frau und Mann wahrgenommen werden. Dieses System soll verhindern, dass Anführer Macht über die Gemeinschaft erhalten. [22] Die Fruchtbarkeit des Zusammenspiels von politischem Widerstand und gelebter Subsistenzkultur zeigt sich z.B. an der Occupy(Wallstreet)-Bewegung, den Indignados in Spanien oder der weltweiten KleinbäuerInnenbewegung La Via Campesina.
Subsistenzwirtschaft als Basis des Guten Lebens für alle
Wir sehen in der Subsistenzwirtschaft die Grundlage, um für alle Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Wer es sich zum Ziel macht, nachfolgenden Generationen ein gutes Leben zu ermöglichen, geht pfleglich mit der Natur um. Eine Gesellschaft, die nicht auf Expansion und Akkumulation ausgelegt ist, kann ihren Reichtum gerechter unter ihren Mitgliedern aufteilen. Eine Wirtschaft, die auf unmittelbaren, freundschaftlichen, sozialen Beziehungen beruht, vermeidet die Ausbeutung von anderen. Schließlich ist die Subsistenzwirtschaft mit ihrer Subsistenzkultur vielfältiger und menschlicher als die auf Konsum orientierte Kultur des Kapitalismus.
Die Subsistenzwirtschaft muss nicht neu erfunden werden, weil sie bereits in vielen Gesellschaften und Gemeinschaften in vielen Teilen der Welt gelebt wird. Sie braucht aber unser aller Unterstützung, um vom Kapitalismus nicht erstickt oder unsichtbar gemacht zu werden, sondern sich weiter zu entfalten und zu gedeihen.
[1] Mit „Subsistenzperspektive“ meinen wir die Subsistenzperspektive, wie sie von Veronika Bennholdt-Thomsen in Wien am Institut für Landschaftsplanung an der Universität für Bodenkultur (BOKU) seit 1999 gelehrt wird. Die Grundlagen dazu hat sie gemeinsam mit Maria Mies und Claudia von Werlhof ab den 1970er Jahren erarbeitet. Seither haben viele an der Weiterentwicklung des Ansatzes gearbeitet. Die Subsistenzperspektive wurde von Gerda Schneider auch als methodischer und analytischer Ansatz innerhalb der Landschaftsplanung entwickelt und wird gegenwärtig als solcher an der BOKU unterrichtet. Die AutorInnen dieses Textes haben in den Seminaren am Institut für Landschaftsplanung erlebt, wie der 40-jährige Wissens- und Erfahrungsschatz der Obengenannten mit aktuellen Entwicklungen und Ansätzen sowie konkreten Initiativen vor Ort in einen produktiven und wertschätzenden Austausch tritt.
[2] BENNHOLDT-THOMSEN, Veronika (2015): Politik der Subsistenz. Die Subsistenzperspektive lenkt den Blick auf das, wovon wir alle leben. In Oya 31, März/April 2015.
[3] BENNHOLDT-THOMSEN, Veronika und Maria MIES (1997): Eine Kuh für Hillary. Die Subsistenzperspektive. Frauenoffensive: München.
[4] LUXEMBURG, Rosa (1923): Die Akkumulation des Kapitals: Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Kapitalismus, Berlin.
[5] BENNHOLDT-THOMSEN, Veronika (1981): Subsistenzproduktion und erweiterte Reproduktion. In: Gesellschaft, Beiträge zur Marxschen Theorie, Nr. 14. Edition Suhrkamp: Frankfurt.
[6] BENNHOLDT-THOMSEN, Veronika, Maria MIES und Claudia von WERLHOF (1992): Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit. Rotpunkt: Zürich.
[7] ILLICH, Ivan (1982): Das Recht auf Gemeinheit. Reinbek: Hamburg.
[8] BENNHOLDT-THOMSEN, Veronika (2015): Subsistenz ist die Lösung. Plädoyer für eine Ökonomie, in der für alle genug da ist. In: Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hg.), Atlas der Globalisierung. Weniger wird mehr. Le Monde diplomatique/Taz, Berlin.
[9] BENNHOLDT-THOMSEN, Veronika (2015): OCHI! Eine wegweisende Entscheidung für die Menschen in Europa (trotz der niederschmetternden Reaktion). Institut für Theorie und Praxis der Subsistenz. Unveröffentlicht.
[10] SCHMIDTHALER, Martina (2013): Wirtschaftsäpfel – die Früchte der Frauen. Eine landschaftsplanerische Betrachtung der Wirtschaftsäpfel als Bestandteil der Hofwirtschaft im Mostviertel. Dissertation am Institut für Landschaftsplanung, Universität für Bodenkultur, Wien.
[11] BENNHOLDT-THOMSEN, Veronika und MIES, Maria (1999): The Subsistence Perspektive: Beyond the globalized economy. Zed Books, London. Sowie BAIER, Andrea, Veronika BENNHOLDT-THOMSEN und Brigitte HOLZER (2005): Ohne Menschen keine Wirtschaft. Oder: Wie gesellschaftlicher Reichtum entsteht. Oekom Verlag: München.
[12] BENNHOLDT-THOMSEN, Veronika (1994): Juchitán - Stadt der Frauen. Vom Leben im Matriarchat. Rowohlt: Reinbek.
[13] BENNHOLDT-THOMSEN, Veronika (2012): Geld oder Leben. Was uns wirklich reich macht. Oekom: München.
[14] BENNHOLDT-THOMSEN, Veronika (2012): Markt ist nicht gleich Markt! Wie gemeinschaftliche Verbindlichkeit den Handel strukturieren kann. In ila, Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika, Nr. 359, Oktober 2012.
[15] SCHNEIDER, GERDA (2013): Urbane Gartenkultur der Frauen. In: zoll+, Österreichische Schriftenreihe für Landschaft und Freiraum, 23.
[16] RADKAU Joachim (2012): Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. C.H. Beck Verlag: München.
[17] KÖLZER, Andrea (2006): Wurzeln im Alltäglichen: Gärten und Subsistenz. Die Bedeutung der Arbeit am Symbolischen für eine Subsistenzperspektive in der Landschafts- und Freiraumplanung dargestellt am Beispiel der Kasseler Erlenfeldsiedlung. In: Gärten als Handlungsfreiräume. Zur Organisation und Qualität von Freiräumen in Gärten. Institut für Landschaftsplanung (Hg.), Wien.
[18] MIES, Maria (2010): Das Dorf und die Welt. Lebensgeschichten – Zeitgeschichten. PappyRossa: Köln.
[19] BENNHOLDT-THOMSEN, Veronika (1999): Subsistenzkultur und bäuerliche Ökonomie. Vortrag gehalten zur Antrittsvorlesung als Honorarprofessorin an der Universität für Bodenkultur, Institut für Landschaftsplanung und Ingenieurbiologie am 11. Jänner 1999, Wien.
[20] FATHEUER, Thomas (2011): Eine kurze Einführung in Lateinamerikas neue Konzepte zum guten Leben und zu den Rechten der Natur. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin.
[21] ACOSTA, Alberto (2015): Buen Vivir. Vom Recht auf ein Gutes Leben. Oekom: München.
[22] ZIBECHI, Raul (2010): Die Kunst der Unabhängigkeit. Und einige Überlegungen zum Heldentum. Goethe-Institut e.V., Humboldt Redaktion: München.