John M. Keynes' (fast) vergessene Vision: fröhliche Stagnation.
GBW
In Kooperation mit der Arbeiterkammer lud das Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien den deutschen Ökonomen und Keynes-Kenner Univ. Prof. Dr. Karl Georg Zinn zu einem Vortrag ein. Es stellte sich die Frage, was angehende Politikwissenschaftler*innen und andere Interessierte unter dem Titel „Spekulation gegen Stagnation funktioniert nicht!“ erwarten durften. Die gemeine keynesianische Politikempfehlung ist an sich zur Genüge bekannt: antizyklische Fiskalpolitik, also Schulden machen gegen die Krise.
Keynes´ langfristige Perspektive: Eine Parallelentdeckung.
Obiges Rezept entspräche dem „Standard-Keynesianismus“, dem mit Abstand „breitesten Strom“ innerhalb der allgemeinen Keynes-Rezeption, informiert Zinn. Dieser Perspektive zufolge war John Maynard Keynes ausschließlich ein Theoretiker der kurzen Frist, dessen Werk nicht über die Dauer eines Konjunkturzyklus' hinaus blickt. Dem widerspricht Zinn vehement. Die Meinung, Keynes Werk enthalte keine langfristige Theorie, sei schlichtweg hanebüchen und falsch.
Neben dem breiten Strom gebe es noch das „dünne Rinnsal“ einer langfristigen Perspektive. Diese Lesart sei jedoch bis in die späten 1980er Jahre nahezu unentdeckt geblieben und kaum nennenswert diskutiert worden. Die Wiederentdeckung des 1946 verstorbenen Sir Keynes besorgten dann parallel die österreichischen Wirtschaftsforscher Ewald Walterskirchen und Alois Guger vom Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) und der mittlerweile emeritiere Zinn an der Technischen Hochschule Aachen.
Grundlage dieser alternativen Keynes Auffassung böten vor allem vier Texte. Neben einem Kapitel im Hauptwerk sind dies drei außerordentlich kurze Texte von nahezu essayistischer Art, allesamt verfasst in der historisch höchst turbulenten Zeit zwischen 1930 und 1943. Ob auf diesem eher mauen Fundament eine standhafte Theorie aufzubauen ist, darüber ließe sich eventuell streiten. Von einem Punkt ist der Aachener Emeritus jedoch nicht abzubringen: „Es gibt keine andere Theorie, die eine solch exakte Prognose für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg, und das heißt für die Entwicklung reifer Volkswirtschaften, vorgelegt hat.“
Phasenweise Stagnation.
Konkret orakelte Keynes, dass die wirtschaftliche Nachkriegs-Entwicklung in drei Phasen vonstatten gehen würde. Zunächst werde es eine Zeit des Wiederaufbaus geben. Um den Wirtschaftsmotor in dieser Boomphase nicht zu überhitzen, schlug Keynes vor, die (Konsum-) Nachfrage zu drosseln. Damit blieben genügend Kapazitäten für notwendige Investitionen übrig. Sodann würde sich der Sturm legen und die Politik habe die Aufgabe, durch antizyklische Politik Konjunkturschwankungen abzufedern. Danach würde eine gewisse Sättigung und Stagnation der Wirtschaft eintreten, weshalb dann die Nachfrage nicht mehr für garantierte Vollbeschäftigung ausreiche. Wenn nun, so führt Zinn aus, in einer solchen Situation keine adäquate Beschäftigungspolitik betrieben wird, weite sich Arbeitslosigkeit wie ein Flächenbrand aus. Alle politischen Versprechen hinsichtlich einer baldigen Rückkehr zu Vollbeschäftigung seien dann blanker Nonsens.
Verantwortlich für diese stagnative Sättigung zeichneten gemäß Keynes insbesondere zwei Trends. Einerseits anhaltendes Produktivitätswachstum, das heißt steigende Güterproduktion bei abnehmender Beschäftigung. Andererseits das im gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt steigende Einkommen. Wer mehr verdient, gibt anteilsmäßig weniger für Konsum aus und spart mehr.
Keynes' Rezept: dreifache Umverteilung.
Wer die oben genannten Texte liest, weiß, dass Keynes mitnichten ein grantiger Pessimist war. Im Gegenteil, sein Schrieb über die Möglichkeiten seiner Enkelkinder (siehe Link) strotzt vor visionärem Übermut: 15 Wochenarbeitsstunden seien in 100 Jahren (ergo um 2030) genug. Zinn relativiert diese leider unwahrscheinliche Prognose, zumal beide Vorbehalte schlagend wurden: kein starkes Bevölkerungswachstum und kein Krieg. Deshalb sei die verfehlte Weissagung zu entschuldigen.
Was nun tun, wenn eine Wirtschaft in die dritte, stagnative Phase eingetreten ist? Zinn nennt insbesondere drei Vorschläge von Keynes: Erstens eine stärkere Einkommensumverteilung, damit die Wirtschaft durch unmittelbaren Konsum angetrieben wird. Zweitens müsste der Staat zunehmend als langfristiger Investor auftreten, was durch eine steigende Steuerquote eine Umverteilung von Privat zu Öffentlich bedeutet. Doch auf Dauer seien auch diese beiden Maßnahmen nicht ausreichend, weshalb Keynes´ ultimativer Vorschlag lautet:
Arbeitszeitverkürzung!
Pessimismus als Realismus.
Stagnation ist somit als langfristige ökonomische Gesetzmäßigkeit entlarvt, welche politisch nicht außer Kraft gesetzt werden könne. Auch die vielzitierte Globalisierung, verstanden als Möglichkeit zusätzlicher Exporte, biete keine Lösung. Die unselige Strategie des Exportweltmeistertums wälze lediglich die Probleme auf andere ab und gehe letztlich nie lange gut. Auch der Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen kann Zinn nichts abgewinnen, da dies bloß ein Hilfskonstrukt sei. „An der Stagnation führt kein Weg vorbei, es sei denn, wir machen wieder wie 1939 Krieg.“ Nachkriegswachstum gebe es eben, no na, nur nach Kriegen. Soweit die erfrischend ernüchternde Gegenwarts- und Zukunftsdiagnose des durchaus fröhlichen Pessimisten Zinn. Vermutlich krisle es also munter weiter, ohne dass sich eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung formiere oder nennenswerte politische Umbrüche eine Lösung bringen werden.
Dabei lägen die Lösungsvorschläge doch auf der Hand. Durch Keynes langfristige Brille jedenfalls erscheint Stagnation nicht mehr als Todfeind, sondern einfach als Lauf der Dinge. Arbeitszeitverkürzung wäre daher nicht Notmaßnahme, sondern Teil der Lösung. Ob wir Keynesianismus also richtig betreiben? Der Arme wälzt sich wohl Haare raufend ...
Links.
Den Text „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“ finden Sie hier.
Der Autor, Michael Schwendinger, hat Internationale Entwicklung und Volkswirtschaft studiert und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.