Jugend in Echtzeitpanik?
Digitalisierung der jungen Lebenswelt
Beate Großegger, Leiterin des Wiener Instituts für Jugendkulturforschung, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Auswirkungen der Digitalisierung und Beschleunigung heutiger Gesellschaft auf die junge Generation. War der Sinn technologischer Innovationen die Gewinnung von Zeit, ist es in der Realität zu einer zunehmenden Schrumpfung und Komprimierung gekommen. Zeit muss heute bestmöglich bewirtschaftet werden, Freizeit in der „nichts getan“ wird, ist demnach gesellschaftlich verachtet, wir müssen also zumindest immer so tun als wären wir beschäftigt. Großegger untersucht diese Einflüsse auf unterschiedliche Jugendkulturen und auf deren spezifischen Lebenskonzepte. Im Gegensatz zur Erwachsenengeneration wachsen Kinder heute umgeben von Smartphones, I-Pads, Facebook und Twitter auf, insofern müssen sie sich von Beginn an damit arrangieren. So nutzen sie diese neuen Medien nicht nur aus praktischer Perspektive, zum online Urlaub buchen oder Emails beantworten, sondern auch zur Kommunikation in sozialen Netzwerken, Spaß und Selbstinszenierung.
Selbstinszenierung als Muss in der neuen Erfolgsgesellschaft
Heute ist nichts fix, nichts sicher, es ist zwar alles möglich, aber auch unter ständiger Veränderung. Der Arbeitsmarkt ist kompetitiver als je zuvor und in vielen Ländern Südeuropas erfasst die Arbeitslosigkeit bis zu 60% der Jungen. Moderne Arbeitsplätze zeichnen sich häufig durch Flexibilität, ständige Erreichbarkeit und hohen Wettbewerbsdruck aus. Der Druck wächst von allen Seiten, erfolgreich sein drückt sich in unserer Gesellschaft mittlerweile durch „gefragt sein“ und „ständig beschäftigt sein“ aus. Facebook und diverse andere Social Media Kanäle werden deshalb als Bildflächen für die Selbstinszenierung genutzt, wo dann Freund*innen“ unter Berücksichtigung von Marktkriterien „likes“ und Kommentare hinterlassen. Du musst dich immer in Szene setzen um am Ball zu bleiben, davon lebt auch die Politik heutzutage! Insofern ist der Ratschlag Erwachsener an die heutige Jugend, „doch einen Gang runter zu schalten und entspannter zu sein“, zynisch, meint Großegger.
Der Rückzug ins private Glück
Auf diese Rahmenbedingungen reagieren die Jugendlichen meist mit der Schaffung kleiner privater Nischen und Rückzugsorte. Freund*innen und Familie sind die Orte, an denen Glück und Nähe empfunden werden, wo mensch nicht ständig das Gefühl hat, auf einer Bühne der Bewertung zu stehen. Außerdem scheint das private Leben zumindest noch ein bisschen autonom gestaltbar zu sein, im Gegensatz zu allgemeinen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Verhältnissen. Deshalb meint Großegger, ist innerhalb der jungen Generation ein voranschreitender Rückzug ins Private zu beobachten. Auf die Frage, welche Ziele und Wünsche die heutige Jugend hat, komme meistens die Antwort: „Glücklich werden, eine Familie haben und meine Freunde, mich selbst verwirklichen können“. Das Bild der Erwachsenen von der Jugend, die rebellisch, politisch aktiv und revolutionär ist, scheint ein Mythos zu sein, denn der Großteil der jungen Generation habe keinerlei Hoffnung in Politik oder Wirtschaft.
Die Jungen sind ja nicht dumm!
Grund für dieses politische Desinteresse ist aber nicht etwa ein um sich greifender Egoismus oder Narzissmus. Nein, meint Großegger, die jungen Leute sind ja nicht dumm, die bekommen ja mit, dass die Politik sich nicht für sie interessiert. Maximal bei Wahlversprechen richten sich Politiker*innen an die Jugend, die längst verstanden hat, dass dies leere Versprechungen sind! Die generelle Kurzlebigkeit der Politik und ihrer Themen, die ständige Fluktuation und die geringe Halbwertszeit technologischer Innovationen und Wissens macht es insofern auch schwierig, in längeren Zeiträumen voraus zu planen. Nachhaltigkeit sei deshalb ein besonders schwieriges Thema für die Jugend, die eher damit beschäftigt sei, die gegenwärtige Zeit best als möglich zu „bewirtschaften“, sei es durch Multitasking oder Effizienzsteigerung.
Als Aufgabe an die Erwachsenengeneration und Politik macht Großegger deshalb aus: die beschleunigte, gesellschaftliche Realität und der ständig wachsende Druck auf die Jugend müssen aufgebrochen werden! Es muss mit gutem Beispiel voran gegangen werden und vor allem die Realität der Jugend verstanden und respektiert werden. In der modernen Gesellschaft des ständigen Sendens, verlernen wir zuzuhören und zu reflektieren! Umso wichtiger ist es der Jugend zuzuhören und Aufmerksamkeit sowie Vertrauen zu schenken!
Wir benötigen Jugend-, Bildungs- und Freizeitmoratorien!
Die Jugend brauche wieder Zeit, jung zu sein, sich selbst zu finden und die Welt zu erkunden. Der Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein verschwindet zunehmend, ist aber eine solch wichtige Phase, nicht nur für die Einzelnen, sondern für die gesamte Gesellschaft. Somit brauche es auch mehr Zeit für Bildung, um eigene Interessen und Leidenschaften zu entdecken und verbunden damit auch mehr Freizeit und Leerräume, um Kreativität anzuregen und um einfach mal nichts zu tun, nachzudenken und die Welt auf sich wirken zu lassen. Einen Versuch, Jugendlichen mehr Freiräume und Entwicklungsmöglichkeiten zu geben, ist die integrative Gesamtschule Göttingens, welche von Wolfgang Vogelsaenger geleitet wird. Dieser lässt sich, wie er selbst sagt, wenig von der Politik oder irgendwelchen Forschungsinstituten beeinflussen, ganz im Gegenteil er versucht „Störungsversuche“ aus diesen Richtungen abzuwehren. Seine Schule wurde bewusst „um die Kinder herum gebaut“, architektonisch sowie konzeptionell. Jedes einzelne Kind soll im Mittelpunkt stehen, mit seinen individuellen Ängsten, Bedürfnissen und Fähigkeiten.
Wir müssen die Angst nehmen, denn wer Angst hat, will nur flüchten!
Jeder neuen Klasse erklärt Vogelsaenger, sie bräuchten keine Angst zu haben, weder vor Lehrer*innen, Eltern, Prüfungen oder sonst irgendwas, denn dafür darf es keinen Grund geben. Und falls sie sich doch einmal alleine und verängstigt fühlen, stehe seine Türe immer offen. Dieses Angebot werde auch fleißig und mit Erfolg von den Kindern genutzt. Auch Peter Heintel stimmt hierbei zu, Angst lähmt die Menschen und macht Handlungsspielräume vernichtend klein! Er kritisiert auch die Rücksichtslosigkeit gegenüber menschlicher Rhythmen in herkömmlichen Schulen. Die Pausenklingel ertöne unabhängig von der Gruppendynamik, das unverdaute Ungenügend aus der Mathematikstunde muss in der darauffolgenden Geschichtestunde schnell verdrängt werden. So sei es ganz allgemein in der Gesellschaft meint er, es entstehen ständige Überhänge, bevor noch das letzte Erlebnis verdaut werden kann, muss das nächste schon wieder aufgenommen werden! Doch auch hierauf hat Vogelsaenger eine Antwort. In seiner Schule haben die Lehrer*innen und Schüler*innen völlig freie Zeiteinteilung. Pausen werden in gemeinsamer Abstimmung zwischen Schüler*innen und Lehrpersonen gemacht. Und auch die Fächer werden nicht im strikten Stundenmuster abgehandelt, sondern je nach Bedürfnis und Lust der Kinder!
Im Miteinander geht vieles einfacher!
Desweiteren sei es ein Grundkonzept seiner Schule, sich gegenseitig auf Augenhöhe zu begegnen. So gibt es kein einseitiges Bewertungssystem für die Schüler*innen, sondern ein ausgeklügeltes Feed-Back- und Selbstevaluationssystem an dem die Jugendlichen, die Lehrer*innen und die Eltern gemeinsam beteiligt sind. Außerdem lebt die Integrierte Gesamtschule Göttingen von Teamprojekten und der gegenseitigen Unterstützung der Schüler*innen. So kann jede*r seine/ihre Fähigkeiten einbringen und wenn Hilfe benötigt wird, diese auch ohne Angst einfordern. Die Ergebnisse des Schulkonzeptes sind erstaunlich und bemerkenswert. Die Absolvent*innen nehmen diese Erfahrungen ihr gesamtes Leben lang mit, sei es in der Lehre, auf der Uni oder am Arbeitsmarkt. Auch Großegger ist überzeugt davon, dass das herkömmliche Schulsystem an den dringend nötigen Fähigkeiten zur Problemlösungs- und Teamfähigkeit vorbei unterrichtet. Nicht verwundert ist sie demnach auch über den Erfolg von Vogelsaengers Schüler*innen, denn genau deren Kompetenzen sucht der heutige Arbeitsmarkt!
Herausforderungen für die Politik und die Erwachsenen
Einig sind sich alle: Es ist nicht die Aufgabe der Jugend das System aufzubrechen. Ganz im Gegenteil muss mit gutem Beispiel vorangegangen werden. Der Organisationsberater Kurt Mayer formuliert hierbei auch eine ganz konkrete Herausforderung an die Politik, die unter unvergleichbar intensiver öffentlicher Beobachtung stehe. Da sei es immer schwierig, Fehler einzugestehen und zu hinterfragen, ob der richtige Weg gewählt wurde. Fehler und Mängel einzugestehen ist aber Voraussetzung für Lernprozesse, und die Politik muss hier Impulse setzen! Peter Heintel ist der Meinung, dass sich die Politik unbedingt wieder aus dem Primat der Wirtschaft befreien muss und tatsächliche Politik betreiben sollte, für die Menschen! Viel öfter muss auch Subversivität gelebt werden: nicht immer den starren Regeln des Systems folgen sondern bewusst ausbrechen! Als wesentlich identifiziert er die Raumschaffung für Feedback Möglichkeiten und Selbstreflektion. In einer Welt, wo keiner mehr sagt wo es langgeht, wird dies umso wichtiger! Hierzu sei es hilfreich sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen, so wie er es im Verein zur Verzögerung der Zeit gemacht hat. Beate Großeggers breit unterstützte Schlussfolgerung ist es, Vogelsaengers Schulkonzept zum Mainstream zu machen und aufzuzeigen, dass die Gesellschaft sehr wohl gestaltbar ist und so auch die Zukunft der jungen Generation.
Die Autorin Julia Seewald hat Politikwissenschaften studiert und ist stellvertretende Obfrau der Grünen Bildungswerkstatt Wien.
Beate Großegger studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaften mit dem Schwerpunkt Kommunikationssoziologie und –psychologie und ist seit 1996 in der Jugendforschung tätig. Seit 2001 ist sie wissenschaftliche Leiterin und stv. Vorsitzende des Instituts für Jugendkulturforschung mit den Arbeitsschwerpunkten: Soziale Exklusion, Jugend und Arbeitswelt, Jugend und Politik, Medien/Zielgruppenkommunikation, Jugendkulturen und Lifestyle, Methoden qualitativer Zielgruppenforschung.
Kurt Mayer ist Gründer und Geschäftsführer von REFLACT Nachhaltige Organisationsberatung. Er ist seit Mitte der 1990er-Jahre als Berater, Trainer und Sozialwissenschaftler im Spannungsfeld von Lernen, Entwickeln und Führen von Organisationen tätig: in der Wirtschaft, im Non-Profit Sektor und im Feld der Politik. Von 2006 bis 2012 war er Mitglied des Bundesvorstandes der Grünen Bildungswerkstatt.
Wolfgang Vogelsaenger ist seit 2002 Leiter der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule (www.wiki-goettingen.de ) in Göttingen. Die integrierte Gesamtschule wurde im Vorjahr von der Robert-Bosch-Stiftung als beste Schule Deutschlands ausgezeichnet. Hochbegabte Schüler*innen lernen dort gemeinsam mit leistungsschwächeren.
Peter Heintel studierte Mathematik, Physik, Philosophie und Germanistik. Außerdem hat er Ausbildungen in Gruppendynamik, Organisationsberatung und eine Kaufmännische Ausbildung als Geschäftsleiter. Er ist emeritierter Professor für Philosophie und Gruppendynamik an der Universität Klagenfurt deren Gründungsrektor er war, sowie Institutsvorstand des Interuniversitären Instituts für Forschung und Fortbildung (IFF) sowie u.a. Gründungsobmann des Vereins zur Verzögerung der Zeit.
-
Entschleunigung
-
Tagungsmappe zum Download