Kampf für Zeitwohlstand
Von Julia Seewald
Das Kinderbuch Momo beschreibt den Kampf um Zeit, versuchen doch graue Männer, uns die Zeit wegzunehmen. Und selbst Hollywood hat das Thema entdeckt: „In Times“ beschreibt eine Gesellschaft der Armen und Reichen, in denen die Armen in einem brutalen Überlebenskampf ihre Zeit verkaufen. Zeit ist kostbar.
Das um sich greifende ‚Zeitsyndrom‘
Deshalb ist Zeit auch umkämpft. Widerstrebende Ansprüche stehen gegeneinander. So werden Wochenenden und die Feierabende, die im Wohlfahrtskapitalismus des 20. Jahrhunderts sozialstaatliche Erfolge waren, zunehmend eingeschränkt. In Portugal wurden auf Druck der Troika vier Feiertage ersatzlos gestrichen. Auch bei uns erhöht sich der Druck. Flexibilisierte Arbeitszeiten, Produktionssteigerungen, die Notwendigkeit zum lebenslangen Lernen und die Beschleunigung aller Lebensbereiche machen es zunehmend schwieriger die freien Zeiten beizubehalten. Obwohl diese so wichtig sind - für die Individuen und die Gesellschaft. Das sogenannte „Zeitsyndrom“ - in westlichen, meist urbanen Lebensräumen weit verbreitet - zeichnet sich durch das Empfinden von Zeitmangel, zunehmendem Stress und Zwang zur Eile sowie wachsender Isolierung der Individuen aus. Das Konzept des Zeitwohlstands versteht sich als Reaktion auf diese problematischen Entwicklungen. Denn die Selbstbestimmung über den Zeitgebrauch, unsere Zeitsouveränität, ist Voraussetzung für Handlungsfreiheit und Gesundheit. Mehr gemeinsame Zeit fördert die Solidarität innerhalb der Gesellschaft, da diese intensivere zwischenmenschliche Beziehungen ermöglicht, Tätigkeiten in Vereinen oder ehrenamtlichen Organisationen zulässt, somit Reflexion anregt und die eigene Umwelt bewusster wahrgenommen wird.
Zeit als knappes Gut
Zeitwohlstand ist demnach ein wesentlicher Indikator für das Wohlbefinden und die Lebensqualität von Gesellschaften und Individuen. Bis heute wird Wohlstand überwiegend in materiellen Gütern gemessen, wiewohl ein wesentlicher Fortschritt der letzten 200 Jahre in den kürzeren Arbeitszeiten gelegen ist. Heute ist vor allem Zeit wieder zum knappen Gut geworden.
Ein Überangebot an materiellen Gütern und ständige Innovationen erhöhen den Konsumdruck. So verbringen viele Menschen das Wochenende mit Shoppingausflügen. Um mithalten zu können, muss das neueste Smartphone, das gerade erschienene Computerspiel, der aktuelle Modetrend und unzählige andere Luxusgüter in den eigenen Besitz wandern, ganz gleich ob die alten Produkte noch funktionieren. Der freie Sonntag, an welchem zumindest in Österreich traditionell Geschäfte geschlossen bleiben, stellt diesbezüglich einen wichtigen Gegenpol dar, der den Menschen die Möglichkeit gibt, jenseits von Erwerbsarbeit und Konsum zu leben. Um diesen zu bewahren haben sich national, aber auch auf EU-Ebene zahlreiche Initiativen zusammengeschlossen, wie zum Bespiel die „Allianz für den Freien Sonntag.“
Der ‚ideale‘ Zeitwohlstand
Doch was genau zeichnet das Zeitwohlstandskonzept aus? Für Jürgen P. Rinderspacher (UNI Münster, Gesellschaft für Zeitpolitik Berlin) besteht es idealerweise in einem ausgewogenen Verhältnis folgender vier Bedingungen:
rein quantitativ genügend Zeit für die eigenen Bedürfnisse zu haben
gesellschaftlich über Zeitinstitutionen kollektiver Arbeitsruhe zu verfügen, die zu gemeinsamer Zeit mit anderen Menschen animieren,
möglichst viel Selbstbestimmung oder Souveränität über die eigene Zeit verwirklichen können
und das bei einer adäquaten Arbeitsdichte (sowohl bei Erwerbs- wie bei Privatarbeiten), die die psychophysischen Belastungen in Grenzen hält, um nicht die Lebenszeit, die mit Arbeit verbracht wird, qualitativ zu entwerten (Rinderspacher 2012/2013).
Das Grundkonzept des Zeitwohlstands sieht er in der christlich-jüdischen Tradition des Sabbat bzw. freien Sonntags begründet. Außerdem hält es „im Keim eine alternative Logik des Wachstums und der Entwicklung“ in sich. Es wirkt dem vorherrschenden Kult des „immer mehr und immer schneller“ entgegen. Die deutsche „Gesellschaft für Zeitpolitik“ sowie der österreichische „Verein zur Verzögerung der Zeit“ sind nur zwei Beispiele für eine zunehmende gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit dieser Thematik.
Zeitarmut als modernes Phänomen
Zeit ist also ein knappes Gut, worum es sich zu kämpfen lohnt. Individuell, für die Gesellschaft und sogar für unsere Umwelt. Sonst ist zu befürchten, dass in westlichen Gesellschaften neben der monetären Schere auch die Ungleichheit der Zeitnutzung größer wird. „Zeit ist Geld“ stellte Benjamin Franklin bereits 1748 fest - uns sollte es heute allerdings darum gehen der Zeit, vor allem ‚freier Zeit‘, wieder einen Wert abseits von ökonomischer Verwertung einzuräumen.
Julia Seewald hat Politikwissenschaften studiert und ist Vorstandsmitglied der GBW Wien.
Weiterführende Informationen:
- Ulrich Mückenberger:
Zeitwohlstand. Eine aktuelle Debatte und ihre Wurzeln. - P. Alois Riedlsperger SJ zu „Zeitwohlstand"
- Jürgen P. Rinderspacher zu „Schönes Wochenende"
- Jürgen P. Rinderspacher (2012):
Zeitwohlstand, Wachtsum und Umwelt. - Allianz für den Freien Sonntag
- Europäische Sunday Alliance
- Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik
- Verein zur Verzögerung der Zeit