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Kommentar zu Lorenz Stör - Klaus Werner-Lobo

Ist der Spagat zu schaffen, zivilen Ungehorsam bis hin zum Gesetzesbruch zu üben, den Stöhr zurecht als wesentliche demokratische Transformationskraft beschreibt, und gleichzeitig zu versuchen, Teil der Machtinstitutionen zu werden?

Unsere Demokratie befindet sich in einer schweren Krise: Immer weniger Menschen trauen Parteien und Regierungen zu, gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen zu lösen. Im Gegenteil: Weniger als die Hälfte der Menschen glaubt noch an die Demokratie als beste Regierungsform, über 80 Prozent der Wahlberechtigten glauben, dass sie keinen nennenswerten Einfluss auf die Politik haben – und mit weniger als zehn Prozent bilden Politiker_innen das Schlusslicht auf der Vertrauensskala aller Berufsgruppen. In Österreich sank die Beteiligung an Nationalratswahlen von 91,9 Prozent 1975 auf 74,4 im Jahr 2013.

Die Ursache dafür liegt nicht nur in Korruptionsskandalen und gebrochenen Wahlversprechen, sondern in einem Demokratiemodell, das den Herausforderungen einer globalisierten und heterogenen Gesellschaft nicht mehr gewachsen ist. Demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen werden sukzessive von ökonomischen Profitinteressen delegitimiert und ausgehebelt, der entfesselte Markt hat längst das Primat über die Politik errungen. Auch tendenziell linkere Parteien und Regierungen stoßen an ihre Grenzen oder lassen sich von der Macht und dem neoliberalen Mainstream korrumpieren. Siehe etwa Rot-Grün in Deutschland, wo gleichzeitig Konzerne von Steuererleichterungen profitierten und (etwa mit Hartz 4) weitere Repressionsinstrumente gegen Unterprivilegierte und Arbeitslose implementiert wurden. Oder die (ursprünglich linke) Arbeiter_innenpartei in Brasilien, die zwar erfolgreiche, aber paternalistische Programme zur Armutsbekämpfung etablierte, gleichzeitig aber die Interessen multinationaler Unternehmen wie Monsanto bedient und die Ausbeutung ökologischer Ressourcen, sozial schwacher Regionen und indigener Gebiete durch Extraktion, Intensivlandwirtschaft und Megastaudämme vorantreibt. Oder Syriza in Griechenland, die trotz „Oxi“ der Bevölkerung dem Druck der internationalen Finanzmärkte nachgeben und den europäischen Austeritätskurs unter Missachtung demokratischer Grundregeln mittragen muss.

Und auch Rot-Grün in Wien kann zwar auf stadt- und verkehrsplanerische Erfolge verweisen, einen fundamentalen sozial- oder wirtschaftspolitischen Kurswechsel vermissen aber viele. Einen solchen hätte der von der Stadtregierung mit Millioneninseraten hochgepäppelte Boulevard wohl ebenso wenig zugelassen wie eine offensivere Willkommenshaltung gegenüber Zuwander_innen und Asylsuchenden, deren Protestcamp vor zwei Jahren ohne spürbare Gegenwehr hochrangiger rot-grüner Stadtpolitiker_innen polizeilich dem Erdboden gleichgemacht wurde. Auch wenn die Kommunalpolitik wenig Entscheidungsmacht gegen die rassistischen Fremdengesetze der Bundespolitik hat: Wäre es nicht zumindest symbolisch notwendig und hilfreich gewesen, dass das rot-grüne Wien, repräsentiert durch Bürgermeister und/oder Vizebürgermeisterin in Widerstand gegen den Bund tritt, die Refugees öffentlich willkommen heißt und ihrem Protest und ihren Hoffnungen kommunale Infrastruktur, Räume, Ressourcen und Perspektiven zur Verfügung stellt? Wer von uns all dies damals zu erreichen versuchte, stieß auf die Angst, das könnte den Rechten bei den damals anstehenden Nationalratswahlen nützen. Mutige progressive Politik sieht anders aus: Sie darf nämlich keine Konflikte scheuen.

Die für mich wesentlichste Aussage in Lorenz Störs zutreffender Analyse liegt daher in der Erkenntnis, dass erfolgreiche politische Transformation Konflikt und Widerstand bedeutet. „Die suggerierte Alternativlosigkeit abzulehnen und den Fokus erneut auf Konflikt und Dissens als immanentes Element einer Demokratie zu legen, würde zu einer Repolitisierung beitragen“, schreibt Stör richtig. Wie aber soll sich hier eine Partei wie die Grünen verhalten, deren Wurzeln ja im Konflikt mit den etablierten Machtapparaten liegen, die aber nun zurecht auf Gestaltungs- und Regierungsmacht – und damit auch auf Kompromiss und Breitenwirksamkeit, also auch auf Harmonie – drängen? Ist der Spagat zu schaffen, zivilen Ungehorsam bis hin zum Gesetzesbruch zu üben, den Stör zurecht als wesentliche demokratische Transformationskraft beschreibt, und gleichzeitig zu versuchen, Teil der Machtinstitutionen zu werden?

Nein, das wäre vermutlich weder glaubwürdig noch erfolgreich. Was Parteien, vor allem in Regierungsbeteiligungen, aber können, ist Zugang zu Ressourcen und Infrastruktur zu ermöglichen. Etwa durch Transparenz und Informationsfreiheit, echte Bürger_innenbeteiligung inklusive der Gefahr des Widerspruchs zu eigenen Zielen, Öffnung von Netzwerken, personelle Durchlässigkeit (zb. mit offenen Vorwahlen bei der Listenerstellung), aber vor allem auch indem sie Sozialen Bewegungen und der kritischen Zivilgesellschaft Räume und auch finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen. Das geht nur, wenn Parteien selbst die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit anerkennen und diese kritischen Bürger_innen auch dort zugestehen, wo sie selbst als Teil des Machtapparats zur Zielscheibe von deren Kritik gemacht werden.

Die von mir mehr oder weniger aus der Nähe beobachteten progressiveren Regierungen – Rot-Grün in Deutschland, Lula in Brasilien, aber auch Rot-Grün in Wien, haben genau das meiner Wahrnehmung nach in weiten Teilen vernachlässigt. Wer mehr Geld für Regierungsinserate bewilligt als für eine kritische Zivilgesellschaft, wer sich – in der paternalistischen Meinung, eh das Gute zu wollen – nicht gern auf die Finger schauen (oder klopfen) lässt, braucht sich nicht wundern, wenn bei gemeinsamen Anliegen wie dem ökologischen, gesellschaftlichen und demokratischen Umbau der Gesellschaft keine Hegemonie erreicht wird, weil die Verbündeten wegbrechen. Das ist systemisch aus Gründen des Machterhalts erklärbar, es korrumpiert aber und führt nicht zum Erfolg. Und es ist der Grund, warum soziale Bewegungen und all jene, die eine nachhaltige Transformation wollen, den Konflikt immer auch mit inhaltlich verbündeten, tendenziell progressiveren Parteien innerhalb der Machtinstitutionen führen müssen. Das Gute Leben kriegt man nicht geschenkt, wir müssen es erkämpfen. Oder um es mit den Worten der indischen Aktivistin Arundhati Roy zu sagen: „Unsere Freiheiten wurden uns nicht von irgendeiner Regierung gewährt. Wir haben sie ihnen abgerungen. Und sind sie einmal preisgegeben, wird der Kampf um ihre Rückgewinnung zur Revolution.“

Klaus Werner-Lobo ist noch bis zur Wiener Landtagswahl Gemeinderat und Kultursprecher der Grünen Wien. Er schreibt zurzeit an einem Buch über politisches Engagement abseits von Parteien mit dem Titel: „Nach der Empörung. Was tun, wenn wählen nicht mehr reicht.“