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Kommentar zu Lorenz Stör - Mathias Thaler

Welche Rolle spielt ziviler Ungehorsam in der notwendigen sozial-ökonomischen Transformation? Lorenz Stör hat im Rahmen des Projektes "Neue Spuren legen" die Diskussion angestoßen und Mathias Thaler, österreichischer Philosoph an der Universität Edinbourgh, antwortet ihm.

Lorenz Störs Essay berührt eine der zentralen Fragen unserer Zeit: wie eine progressive Politik im Angesicht massiver globaler Ungleichheit zu verfechten ist. Diese Frage, so könnte man freilich meinen, ist mindestens so alt wie die seit dem 19. Jahrhundert vorherrschenden Debatten zwischen MarxistInnen und SozialdemokratInnen um die Reformfähigkeit kapitalistischer Gesellschaftssysteme. Was Störs Essay hingegen auszeichnet, ist der Versuch, die aktuelle Diskussion zwischen auf Konsens pochenden und konflikt-orientierten Theorien demokratischer Partizipation für die Kontroverse um eine sozial-ökonomische Transformation fruchtbar zu machen. 

Da mir die Stoßrichtung des Arguments plausibel erscheint, will ich nur zwei kurze, konstruktive Einwände vorbringen. (1) Stör argumentiert, dass eine durch Agonismus und Dissens repolitisierte Gesellschaft nicht zu einer „Neuauflage der klassischen links-rechts Schemata der Politik“ führen würde. Diese Idee steht allerdings im Widerspruch dazu, was die meisten VerfechterInnen einer konflikt-orientierten Demokratietheorie zu propagieren versuchen. Der große Fehler, so die Kritik Mouffes und Laclaus, von New Labour war es ja gerade, in Richtung der politischen „Mitte“ abzudriften; agonale Politik muss genau deshalb darauf bestehen, dass der Widerspruch zwischen linken und rechten Vorstellungen von Gesellschaft aktiv affirmiert wird. Natürlich muss damit auch eine Redefinition dessen einhergehen, was heute als progressiv verstanden wird, aber Repolitisierung darf nicht als Überwindung von links-rechts Schemata interpretiert werden. Wie diese Umdeutung des Widerspruchs linker und rechter Vorstellungen von statten gehen soll, ist die wirklich spannende Frage, an der sich gerade progressive Projekte in ganz Europa abarbeiten. Dieser Aspekt findet zu wenig Beachtung in Störs Aufsatz. 

(2) Stör präsentiert zivilen Ungehorsam als ein probates Mittel, um Gesellschaften auf fundamentale Probleme, etwa bezüglich Klima- und Flüchtlingspolitik, hinzuweisen. Wie richtig festgehalten wird, ist ziviler Ungehorsam im Wesentlichen ein politisches Instrument, um spezifische Unzulänglichkeiten einer Rechtsordnung durch gesetzeswidrige Handlungen zu offenbaren und dadurch, über den Umweg eines strategischen Rechtsbruchs, zu korrigieren. Ziviler Ungehorsam ist darum auch als ein auf Optimierung, nicht auf Revolutionierung bestehender Machtkonstellationen abzielendes Handeln zu begreifen. Die Frage ist jedoch, ob die im Essay angeführten Beispiele als ziviler Ungehorsam in diesem Sinn gesehen werden können. Wie der Autor selbst zu verstehen gibt, handelt es sich dabei vielleicht eher um punktuelle Störaktionen, die durchaus von großer Wirksamkeit sein können; es mangelt ihnen jedoch, so ließe sich vermuten, an der weiter ausgreifenden Kritik, die erfolgreichen zivilen Ungehorsam auszeichnet. Dieser Punkt deutet schließlich auf eine weitere Frage hin, die im Text zwar berührt, jedoch nicht vertieft wird: wie sich nämlich Praktiken des gewaltfreien Widerstands im Kontext systemimmanenter Ungerechtigkeiten entwickeln lassen. Ist ziviler Ungehorsam, der ja letzten Endes herrschende Verhältnisse unberührt lässt, tatsächlich angemessen, um globale Ungleichheit zu bekämpfen? Auch diese Frage ist zentral für die Diskussion, die Stör scharfsinnig anstößt.

Mathias Thaler ist ständiger Chancellor’s Fellow für  an der University of Edinburgh. Sein hauptsächliches Forschungsgebiet ist zeitgenössische politischer Theorie. Derzeit arbeitet er an einem urteilsbasiertem Zugang um Begriffe der politischen Gewalt zu verstehen, zu kritisieren und zu erneuern. Dieses Projekt wird durch einen  unterstützt. Thalers  wurden in Analyse & KritikContemporary Political TheoryCritical Review of Social and Political PhilosophyEuropean Journal of Political Theory, Philosophy & Social Criticism, Political Studies and Polity veröffentlicht. Er ist Autor von Moralische Politik oder politische Moral? Eine Analyse aktueller Debatten zur internationalen Gerechtigkeit (Campus, 2008) und Co-Autor (mit Mihaela Mihai) von On The Uses and Abuses of Political Apologies (Palgrave 2014).