Kommentar zu Timea Kasa - Elke Großer
Wie wir zukünftig mit Zeit angesichts sozial-ökologischer Krisen und der Entfremdung des Menschen von sich selbst und der Natur umgehen, hat sich als ein zentrales Thema in der öffentlichen wie politischen Diskussion etabliert. Eine Möglichkeit wäre eine Ethik des Verweilens - Timea Kasa skizziert eine für mich sehr interessante erweiterte Alternative zum Entschleunigungsdiskurs. Eine Ethik des Verweilens ist der Versuch, anhand einer Kritik heutiger Zeitverhältnisse einen alternativen Entwurf für einen nachhaltigeren Umgang mit Zeit und mehr Lebensqualität zu entwickeln.
Mit ihrer Bestandsaufnahme zu den Ursachen des heutigen Zeitnotstandes für Mensch und Natur beschränkt sich die Autorin nicht allein auf den gängigen Beschleunigungsaspekt, sondern bezieht unsere Vorstellungen vom Fortschritt und die Vertaktung des Lebens mit in ihre kritischen Überlegungen ein.
Wenn Zeit infolgedessen einen "maßlosen" Charakter angenommen hat, ist es für mich nur folgerichtig, wenn die Autorin danach fragt, was ein "richtiges" Zeitmaß sein könnte.
Oft steht in gesellschaftlichen Diskursen Entschleunigung als Gegenentwurf für eine beschleunigte Gesellschaft im Vordergrund. Timea Kasa versucht zu zeigen, warum Entschleunigung nicht die richtige Antwort auf den heutigen Zeitnotstand sein kann. Sie kritisiert Entschleunigung dahingehend, dass diese eher dem Wachstum, dem Beherrschen der Zeit und dem Optimierungszwang zu dienen scheint, etwa wenn mit Forschung und Kosmetikprodukten das Altern aufgehalten werden soll oder wenn mehr Freizeit einzigallein für mehr Konsum oder der Wiederherstellung von Arbeitskraft nützlich sind - "Entschleunigung dient damit dem längeren Beschleunigen." Diese Überlegungen finde ich sehr gelungen. Beschleunigung, so die Autorin, ist auf die Zukunft hin ausgerichtet und Entschleunigung auf die Vergangenheit. Vernachlässigt wird das Hier-und- Jetzt.
Resonanzerfahrungen entstehen nur im Gegenwärtigen. Timea Kasa bezieht sich in ihrer Argumentation, hinsichtlich eines guten Lebens und einem richtigen Umgang mit Zeit, auf die Resonanztheorie von Hartmut Rosa.
Weiterhin bringt Timea Kasa als Übergang zwischen dem Schnellem und dem Langsamen bzw. dem Vergangenem und dem Zukünftigen den Begriff der Suffizienz als ökologisch-kulturelle Dimension und das Verweilen als Möglichkeit zur Langeweile, in der Kreativität, Schöpferisches und Raum für Reflexion und Resonanzen entstehen können, in ihre Diskussion ein. Sowohl Suffizienz als auch das Verweilen beziehen sich auf das Hier-und-Jetzt und zielen auf das "rhythmische und dynamische Stabile" und auf ein Gleichgewicht zwischen dem "Abbau und Aufbau" biologischer Ressourcen sowie dem Bestehendem und der Zukunft.
Um eine Ethik des Verweilens zu etablieren, sieht die Autorin sowohl entsprechende gesellschaftliche Rahmenbedingungen als auch individuellen Widerstand gegenüber den herrschenden Zeitverhältnissen als notwendig an. Zeitpolitik und Slow-Movement-Bewegungen sind Beispiele, die die Autorin für ein alternatives Zeitverständnis anführt.
Der Autorin gelingt es, der Entschleunigungsdiskussion durch den Suffizienzbegriff eine ökologische Dimension hinzuzufügen, denn nur im maßvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen kann zukünftig Raum und Zeit für menschliches Wohlbefinden entstehen.
Interessant scheinen mir die Überlegungen zu einem alternativen Fortschrittsbegriff zu sein. Eine Ethik des Verweilens wende sich nicht generell vom Fortschrittsgedanken für technologische Entwicklungen und Wohlstand ab, vielmehr sollte dieser neu, jenseits der Steigerungslogik neu definiert werden und sich am zeitpolitischen Konzept von Zeitwohlstand orientieren. Neue Technologien können für eine bessere nachhaltigere Welt und einem neuen Verständnis von Lebensqualität von Nutzen sein.
Ein Projekt, das sich auf die "Suche nach den rechten Zeitmaßen", mit dem Ziel Mensch und Natur in Einklang zu bringen, ist das Tutzinger Projekt "Ökologie der Zeit". Aus diesem Projekt heraus sind viele Veröffentlichungen entstanden.
Bündnis 90/ Die Grünen z.B., die in der Zeitpolitik ein wichtiges Politikfeld sehen, vernachlässigen allerdings die ökologische Dimension. Sie setzen ihren Fokus auf den Menschen, einen selbstbestimmten und selbstbewussten Umgang mit Zeit und diskutieren konkrete Instrumente für Zeitpolitik u.a. in Sozial-, Arbeits-, Familien- oder Finanzpolitik. Ein konkret zeit-ökologischer Aspekt fehlt bisher in deren zeitpolitischen Programm. Umso wichtiger scheinen mir Beiträge wie dieser zu sein und wünschenswert wäre, dass diese in der öffentlichen Diskussion mehr Beachtung finden und weiter konkretisiert werden. Eine "Ethik des Verweilens" ist ein guter Ansatzpunkt, Lebensqualität und Nachhaltigkeit jenseits der Wachstumslogik neu zu denken.
Elke Großer, Soziologin M.A., ist Mitglied im Beratenden Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) und Redaktionsmitglied/ Mitherausgeberin des Zeitpolitischen Magazins. Forschungsthemen sind: Zeit und Zeitgestaltung im Alltag, Zeitwohlstand, Digitalisierung/ Mediatisierung und Zeit; Zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge zum Thema Zeit und Zeitpolitik.
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