Lernen von Roosevelts New Deal?!

Peter Horn
Der Lehrsaal B 402 an der Technisch-Gewerblichen Abendschule des Berufsförderungsinstituts Wien in der Plößlgasse füllte sich pünktlich und schnell an diesem Abend. Grund dafür könnte die hochkarätige Diskutant*innenrunde gewesen sein. Am Podium: Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister, Silvia Angelo, Leiterin der Abteilung Wirtschaftspolitik in der Arbeiterkammer Wien und Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Uni Wien. Moderiert hat Ulrike Herrmann, TAZ-Wirtschaftsjournalistin und Buchautorin. Sie bestach durch pfiffige Fragen, hohe Sachkenntnis und besondere Publikumsfreundlichkeit – alle Fragen wurden drangenommen, keine blieb unbeantwortet. Die Veranstaltung fand in Kooperation von Arbeiterkammer, Grüner Bildungswerkstatt, Wege aus der Krise, Mattersburger Kreis, BEIGEWUM, Attac und Katholischer ArbeitnehmerInnenbewegung Österreichs statt.
Vorbemerkung – warum diese Veranstaltung?
Bevor Schulmeister in seinem Eröffnungsreferat die Situation der USA in den 30er Jahren und Roosevelts New Deal skizziert, sei folgender Hintergrund vorausgeschickt:
Das Scheitern der europäischen Krisenstrategie durch Austeritätspolitik, Arbeitsmarktflexibilisierung, Exportorientierung und Umverteilung nach oben ist evident. Staatsschulden und Arbeitslosigkeit schreiben triste Rekorde, während Klimawandel und Ressourcenausbeutung ungelöst bleiben. Für eine echte Krisenlösung stellen sich die Fragen: Ist lediglich grünes Wachstum nötig oder brauchen wir eine radikale Wende hin zu sozialem und nachhaltigem Wohlstand für alle fernab von Wachstumsfetischismus?
Häufig wird ein ökologisch inspirierter Keynesianismus, ein „Green New Deal“, als Lösung vorgeschlagen. Durch grüne Umwelttechnologien sollen neue Märkte und Arbeitsplätze entstehen.
Übersehen wird dabei aber oft, dass der wirtschaftliche Erfolg von Präsident Franklin D. Roosevelts New Deal vor allem durch Umverteilung von oben nach unten zustande gekommen ist. Umverteilung durch Vermögens- und Einkommenssteuern sowie regionale Umverteilung waren nur durch die Stärkung zentralstaatlicher Institutionen der USA möglich. Diese Voraussetzungen waren es, die für ein erfolgreiches Nachkriegsmodell sorgten, das auf sozialem Zusammenhalt und Vollbeschäftigung beruhte.
Heute stellt sich die Frage: Ist ein „Green and Social New Deal“ als Einstieg für eine ökosoziale Transformation Europas geeignet?
Erster New Deal 1933/34: Akutprogramme bei Arbeit, Armut, Banken.
Schulmeister dankt zu Beginn für die Einladung mit den Worten: „Roosevelt ist ein bisschen ein Guru für mich.“ Roosevelt seien in der Finanz- und Wirtschaftskrise der 30er Jahre mit seinem New Deal nämlich zwei entscheidende Dinge gelungen: „Erstens, Zuversicht für die Menschen zu schaffen und zweitens, die strikte Regulierung der Finanzmärkte.“
Die Hauptsorgen waren damals eine hohe (Jugend-)Arbeitslosigkeit und große soziale Not. „Wir können uns das heute kaum vorstellen“, sagt Schulmeister. „Viele Menschen litten Hunger.“ Von 1929 bis 1933 ging das BIP massiv zurück, während im selben Zeitraum die Arbeitslosigkeit von drei auf 25 Prozent stieg. „Das Preisniveau schrumpfte im selben Tempo. Das nominelle Einkommen halbierte sich, die Schuldenlast aber blieb gleich“, sagt Schulmeister. „Viele Farmer und Häuslbauer konnten ihre Kreditzinsen nicht mehr zahlen.“ Es gab kein soziales Sicherheitsnetz, weder eine öffentliche Arbeitslosenversicherung noch Rentenversicherung.
„Ziel war es daher, die Menschen möglichst schnell in Beschäftigung zu bringen, zum Beispiel mit einem gemeinnützigen Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit, dem sogenannten Civilian Conservation Corps.“ Arbeitslose Männer zwischen 18 und 25 Jahren arbeiteten hier für die Waldaufforstung, den Bau und die Säuberung von Straßen. „Die Arbeit in dieser Art Arbeitslager war sehr schlecht bezahlt, wurde aber angesichts der Not dankbar angenommen. Bis 1942 wurden mit dem Programm 2,9 Millionen Jobs geschaffen.“
Der erste New Deal bedeutete laut Schulmeister für die Finanzmärkte eine Schließung der Banken. Bereits wenige Tage nach Roosevelts Amtsübernahme wurden alle Banken angewiesen, für vier Tage zu schließen (4 bank holidays). In dieser Zeit wurde geprüft, welche Banken durch staatliche Kreditvergabe gerettet werden konnten und welche für immer schließen mussten. Um Spekulationen zu unterbinden, wurde der Securities Act of 1933 erlassen. Der National Industrial Recovery Act half bei der Deflationsbekämpfung. Und die Federal Housing Administration versicherte unter bestimmten Voraussetzungen Eigenheimkredite der Banken zu zinsgünstigen Krediten mit längeren Laufzeiten. Dadurch stieg die Zahl der Hausbesitzer von vier auf 66 Prozent, was auch die Bauindustrie ankurbelte.
Zweiter New Deal 1935/38: Einführung des Sozialstaats.
Während der erste New Deal sich mit den dringlichsten Problemen befasste, umfasste der zweite vor allem längerfristige Maßnahmen zur Einführung eines Sozialstaats. „Mit dem Social Security Act wurden erste Sozialversicherungen eingeführt, zum Beispiel eine Rentenversicherung, eine Witwenrente bei Industrieunfällen sowie Hilfen für Behinderte und Alleinerzieherinnen“, sagt Schulmeister.
Mit dem Wagner Act (Senator Robert F. Wagner) bekamen Arbeitnehmer nun das Recht, Gewerkschaften zu bilden und durften wegen einer Mitgliedschaft in einer solchen nicht mehr entlassen werden. Der Fair Labor Standards Act sorgte für einen Mindestlohn, Arbeitszeitbegrenzung und das weitere Verbot von Kinderarbeit unter 16. Die Konjunktur wurde durch viele öffentliche Bauvorhaben, zum Beispiel Straßen, Brücken, Tunnel, Flughafen La Guardia, Parks, Bäder angekurbelt und 90 Prozent der Farmer erhielten Zugang zu günstigem Strom.
„1935 wurde der Wealth Tax Act mit dem berühmten Einkommensspitzensteuersatz von 79 Prozent beschlossen.“ In erster Linie aus Wahlkampfgründen, fügt Schulmeister hinzu. Weil dieser Steuersatz erst ab einem sehr hohen Einkommen fällig wurde, gab es nur einen einzigen Steuerzahler, der ihn bezahlen musste: John D. Rockefeller.
Ferner „wurde die KÖST zwischen sieben und 27 Prozent eingeführt“. Kleinere Kapitalgesellschaften waren von den Regelungen weitgehend ausgenommen. „Und auch die Künstler förderte Roosevelt“, betont Schulmeister.

Peter Horn
TEIL 2: DISKUSSION.
Roosevelts Stärken und fireside chats.
„Roosevelts Politik war immer auf konkrete Probleme fokussiert“, erklärt Schulmeister. Ein Mann der Tat sei er gewesen, wie es ihn heute im politischen Betrieb leider nicht mehr gebe. Roosevelt war weder wirtschafts- noch unternehmerfeindlich. „Einige mag das überraschen, aber er hat sich sehr für die Unternehmer eingesetzt.“ Immer habe er Bündnisse auf breiter Basis gesucht, „gleichzeitig war es ihm wichtig, Gegner klar zu benennen, zum Beispiel diejenigen, die mit fremdem Geld spekuliert haben.“ Dazu bediente Roosevelt sich einer sehr klaren und einfachen Sprache. Legendär waren die „fireside chats“ des Präsidenten, vielmehr flammende Radioansprachen als wohlige Kamingespräche, denen über 100 Millionen Amerikaner lauschten.
Kräfteverhältnisse.
Herrmann betont die bedeutsame Regulierung des Finanzsektors im New Deal und fragt Brand: „Lässt sich das so auch auf die Eurokrise übertragen?“ Der Professor meint, dazu müsse man sich die Kräftekonstellation heute ansehen. „Roosevelt hat eine Politik der Kräfteverhältnisse gemacht. Wir müssen uns fragen, ist denn die kapitalistische Ökonomie heute unter globalisierten Verhältnissen so steuerbar wie 1932 und 1933? Den Banken müssen wir sagen, so geht es nicht weiter.“ Leider fehle es unseren Politikern aber an Mut, starke Akteure zu schwächen, kritisiert Brand. Im Gegensatz zu damals, denn Roosevelt sagte klipp und klar: „Die Wallstreet ist mein Gegner.“
Tipps für Angela Merkel.
Auf die spannende Frage, welche drei Tipps das Podium Bundeskanzlerin Merkel in der heutigen Situation geben würde, kritisiert Silvia Angelo eher allgemein, die Geschicke Europas würden auf undemokratische Weise gelenkt. Wettbewerbspakte, Spar- und Austeritätspolitik seien die falschen Rezepte.
Brand moniert, heute gebe es im Gegensatz zu damals nichts Progressives. „Unter Roosevelt hatten die Menschen sehr rasch etwas von dessen Krisenpolitik, zum Beispiel ein Eigenheim oder Automobilität. Der New Deal war deswegen so toll, weil dabei der Fordismus herauskam.“ Der heutige Fordismus aber sei ein Zweitwagen oder ein Dritthandy, „während wir immer noch nicht wissen, wie wir mit Sozialökologie und Frauenarbeit umgehen sollen.“ Errungenes sollte natürlich erhalten bleiben, aber damit ein gutes Leben für alle möglich werde, müssten wir prüfen, „wie besser verteilt werden kann und wie der Verteilungskuchen gebacken wird.“ Denn Kapitalismus sei Verachtung und Ausschluss zum Beispiel Arbeitsloser oder im Konkurrenzkampf Zurückgefallener.
„40 Jahre neoliberale Umnachtung“.
Schulmeister sagt, Merkel müsse begreifen, dass die Krise vor 40 Jahren begonnen hat. „Wir haben 40 Jahre neoliberale Umnachtung der Eliten hinter uns mit Grundmantras wie ‚mehr Privat, weniger Staat’ oder ‚wir müssen uns den Märkten anpassen’. „Was würde Roosevelt heute tun?“, hakt Herrmann nach. Das könne er nicht beantworten, sagt Schulmeister. Bei Roosevelt seien alle verzweifelt gewesen: „Ein Denken in Alternativen war in den 30er Jahren einfacher als heute. Um zu verändern, muss ich Bündnisse schließen, zum Beispiel mit Unternehmen. Die erkennen eh schon langsam, dass sie auch nicht Gewinner der Krise waren.“
Dass es damals „einfacher“ gewesen sei, glaubt Angelo nicht. Auch an die Einsichtigkeit der Unternehmer*innen glaubt sie aus eigener Verhandlungserfahrung mit Unternehmensvertreter*innen nicht. Woraufhin jemand im Publikum kritisch einwirft, es sei aber ein Unterschied, ob man mit Unternehmer*innen oder Unternehmensvertreter*innen spricht!
Verändern mit Bündnispartnern.
Als wichtigste Veränderungen fordert Schulmeister einen Mindestlohn, prekäre Beschäftigung müsse aufhören und Arbeitszeitverkürzungsmodelle gehörten institutionell verankert. „Eine Grundänderung des Wirtschaftssystems ist notwendig. Politiker sollten sagen, wir können Dinge verändern.“ Stattdessen herrsche aber die Grundhaltung, „wir müssen uns den ökonomischen Bedingungen anpassen.“ Verändern könne man mit einem konkreten Maßnahmenprogramm. Gleichzeitig müsse man den Menschen erklären, warum etwas bisher schlecht war.
Damit die Intellektuellen endlich aufwachen, brauche es laut Schulmeister einen Schock, zum Beispiel einen Dax-Sturz. Ebenfalls brauche man Bündnispartner. „Zum Beispiel sehen viele Personalchefs bereits ein, dass nicht zwei Menschen die selbe Arbeit bei unterschiedlicher Bezahlung verrichten können.“ Wie es in vielen Branchen in den letzten Jahren (betr)üblich geworden ist, weil einer festangestellt ist und der andere nur einen Leiharbeiter- oder gar Werkvertrag hat.
Visionen.
Ein Pensionist im Publikum fragt, ob nicht ein Bedingungsloses Grundeinkommen ein Ausweg aus der Krise sein könnte. Brand meint dazu, ein Job um jeden Preis könne nicht die Lösung für ein gutes Leben sein. Ein Grundeinkommen sei zu befürworten, allerdings unter der Bedingung, dass die Menschen damit „Sinnvolles“ machen. Brand spricht weiter vom Green New Deal, von einem solidarischen New Deal und einer doppelten Transformation: „Die Frage nach dem guten Leben stellt sich heute doppelt: Wo knüpfen wir gegen den Neoliberalismus an?“ Denn im Zentrum stehe das gute Leben, „nicht die gute Wirtschaft“. Das gute Leben aber sei „schwierig“ im kapitalistischen System. Brand vertraue aber auf Menschen, die Visionen hätten und sich gegen Arbeitszwang engagieren. Eine andere Vision könnte lauten „autofreies Wien 2025“.
Vom Kriege.
„Wissenschaftliche Auseinandersetzung, heißt Krieg führen“, sagt Schulmeister. „Das hatte Hayek kapiert.“ Und weiter: „Die Politiker kennen sich gar nicht aus.“ Man müsse endlich aggressiv werden und ihre Legitimationsbasis zerstören, indem man konkrete Alternativen aufzeigt, denn „das Soziale darf man nicht den Rechten überlassen.“ Politiker seien nicht zu blöd, meint Angelo. „Nur, warum hört uns keiner zu, müssen wir uns fragen.“ Bemerkenswert sei auch, dass die Linke geschwächt aus der Krise hervorgehe. Die Gewerkschaften gehören nach Angelos Meinung gestärkt, es brauche ein neues Klassenbewusstsein.
Wandel von oben.
„Interessant ist, dass sowohl Roosevelt als auch Keynes aus der absolut reichen und gebildeten Oberschicht stammten – Harvard, Cambrigde, Eton“, informiert Herrmann am Schluss. „Der Wandel wurde damals also von ganz oben vollzogen. Vermögender als Roosevelt war nur noch Rockefeller.“ Verglichen mit heute wäre das so, wie wenn ein Piëch-Sohn Kanzler würde. Herrmann, selbst Deutsche, beendet die Veranstaltung mit ihren eigenen drei Tipps an Merkel: „Erstens, die Löhne müssen in Deutschland steigen! Zweitens, ein Mindestlohn von 10 Euro brutto die Stunde muss her! Und drittens, man muss die Länder im Süden entschulden!“
Die Autorin, Karina Böhm, hat Sozial- und Wirtschaftswissenschaften studiert und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.
(Videoaufzeichnung des Vortrags sowie der Podiumsdiskussion unter: https://www.youtube.com/user/GrueneBWwien)