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Lorenz Stör - „Niemand hat das Recht zu Gehorchen“ – Zur Rolle des zivilen Ungehorsams für eine sozial-ökologische Transformation

Ziviler Ungehorsam ist ein adäquates Mittel gegen die postdemokratische Verwahrlosung. Wir brauchen für eine lebendige, demokratische Kultur den Dissens, den Konflikt, die Auseinandersetzung. Dazu braucht es auch die Elemente des Unvorhersehbaren, Spontanen und des Radikalen in der politischen Auseinandersetzung.

Die sozial-ökologische Transformation als gutes Leben für alle?

Den gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Debatten über soziale und öko­logische Herausforderungen mangelt es selten an Information über deren Tragweite. Die verheerenden Folgen des Klimawandels sind in Detail erforscht und werden von keiner ernstzunehmenden wissenschaftlichen Quelle mehr in Frage gestellt. Dabei hat sich der politische Umgang mit dem Thema bisher jedoch weitestgehend auf Effizienz­steigerungen durch technologischen Fortschritt und die Anpassung von Konsum­mustern durch individualisierte Bewusstseins- und Verhaltensstrategien in einer ‚green economy’ beschränkt. Weltweit zunehmender Ressourcenverbrauch und steigende soziale Ungleichheit lassen jedoch vermuten, dass dieser Ansatz zu kurz greift. Einer effektiven Antwort auf die Probleme stehen vielmehr nicht-nachhaltige soziale und politische Praktiken im Weg, die sich tief in den gesellschaftlichen und individuellen Lebensformen verankert haben (Sommer/Welzer 2014). In diesem Spannungsfeld hat sich in den Fachdebatten der Begriff der sozial-ökologischen Transformation etabliert, welcher die analytische Frage einer tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Neuge­staltung bedingt durch ökonomische, soziale und ökologische Krisen reflektiert. Unter Anerkennung der engen Verknüpfung dieser Krisenphänomene geht es dabei auch um einen „demokratischen, gerechten und solidarischen Umbau hin zu einer nachhaltigen Produktions- und Lebensweise, [...] den Abbau von sozialen Ungleichheiten sowie um die Umverteilung gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Macht hin zu mehr Gerechtigkeit“ (Brand 2014). Das Vorhaben setzt somit weit umfassender an als bei der Innovation neuer Technologien und dem fortwährenden Vertrauen auf die Effizienz von Marktmechanismen. Es beinhaltet den normativen Aspekt einer grund­legenden Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft und drückt sich öffentlich zunehmend durch das Bedürfnis nach einem „guten Leben für Alle“ aus. Dieses „gute Leben für Alle“ wurde erst kürzlich bei dem gleichnamigen Kongress im Februar 2015 in Wien diskutiert. Bei allen Differenzen in dieser Debatte herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass eine sozial-ökologische Transformation nur unter der demokratischen Teilhabe aller Be­troffenen stattfinden kann. Was genau solch eine Teilhabe beinhaltet und wie genau sie aussehen soll, berührt fundamentale Fragen demokratischer Willens­bildung. Hierbei lohnt sich ein kurzer Blick in zwei demokratietheoretische Debatten, die mit Blick auf ein emanzipatorisches Demokratieverständnis eine wichtige Rolle spielen.

Demokratie, Postdemokratie und danach?[1]

Die von Jürgen Habermas maßgeblich geprägte Idee der Demokratie als ‚deliberativer Raum’ betont die Rolle öffentlicher Beratschlagung als Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger. Diese Form der demokratischen Willensbildung setzt auf einen Konsens, welcher am Ende eines fair ausgehandelten Prozesses steht. Laut Habermas dient die ‚ideale Sprechsituation’ – also eine Form der ‚kommunikativen Vernunft’ frei von irrationalen Zwängen der Beteiligten und der gemeinsamen Akzeptanz von „kontextübergreifenden Geltungsansprüchen wie Wahrheit oder moralischer Richtig­keit“ (Habermas 2001, 12) – als Wegbereiter für solch eine konsensbasierte Demokratie. Als bekennender Europäer beschränkt Habermas diesen politischen Dialog nicht nur auf einen homogenen Sprach- und Kulturraum, sondern legt seine Ideen einer post­nationalen Öffentlichkeit – beispielsweise anhand einer Kritik an dem gegenwärtigen europäischen Umgang mit Griechenland – dar (Habermas 2015).

Der Konsens als Möglichkeit übereinstimmender Meinungen wird in dieser Tradition von vielen Menschen oft als der Idealtypus einer funktionierenden Demo­kratie betrachtet. Er schwingt implizit auch in Forderungen wie dem „guten Leben für Alle“ mit, also Lebenssituationen in denen es jeder einzelnen Person gut geht und mit denen alle übereinstimmen können. Problematisch sind allerdings die weitgehend herrschafts­freien Grundvoraussetzungen, derer es bei einem solchen deliberativen Demokratie­verständnis bedarf. Anhand der erwähnten Merkmale einer sozial-ökologischen Transformation wird schnell klar, dass diese, wie jeder grund­legende gesellschaftliche Wandel, bestehende Herrschafts- und Machtformen heraus­fordert. Es wäre somit naiv zu glauben, dass solch eine Entwicklung gänzlich konfliktfrei verlaufen kann. Die Konfliktebene spielt allerdings selbst in gegenwärtigen Transfor­mationsdebatten „eine geringe Rolle und ist negativ konnotiert. Es sollen weitgehend ‚alle’ mitgenommen werden beim Prozess der Transition-Transformation und die berühmten Win-win-Konstellationen geschaffen werden" (Brand 2014, 247). Um diese Konfliktebene entsprechend mitzudenken, kann eine gegenläufige demokratie­theoretische Diskussion als Grundlage behilflich sein.

Den Habermas’schen Überlegungen steht Jaques Rancière’s These der Un­möglichkeit von machtfreier, rationaler Deliberation gegenüber. Auf Machtunterschiede basierende Missverständnisse erzeugen hier ein ‚Unvernehmen’ anstatt dem Einvernehmen, auf welches Habermas abzielt (Doerr 2013). Der Fokus demokratischer Prozesse liegt somit nicht auf dem Erreichen eines Konsens, sondern dessen kontinuierlicher Infragestellung in Form von demokratisch ausgelebtem Dissens. Dieser Dissens ist auch ein zentrales Element der ‚radikalen Demokratie’ von Chantal Mouffe. Für sie stellt gerade die Uneinigkeit das Politische in einem demokratischen Prozess dar. Politik muss ihrem Wesen nach parteiisch sein, demokratische Politik muss agonistische – also gegnerische – Debatten führen[2]. Diese Notwendigkeit wird in dem Negativbeispiel der sozialdemokratischen Politik des „dritten Wegs” aufgezeigt. Ausgehend von der Englischen New Labour in den 1990er Jahren galt diese Politik als Versuch, die klassische Teilung zwischen linker und rechter Politik zu überwinden und einen Konsens der linken Mitte zu etablieren. Stattdessen trug dieser Versuch jedoch maßgeblich zu einer Entpolitisierung bei, da er den aufkommenden Neoliberalismus samt seiner Herrschaftsverhältnisse nicht mehr in Frage stelle, sondern sogar dessen hegemoniale Verbreitung unterstützte (Mouffe 2011, 3). Diese Entwicklung entpuppte sich als Wegbereiter des auf Rancière zurückgehendenden Begriffs der Postdemokratie. Hierbei bleiben die bestehenden Institutionen der parlamentarischen Demokratie zwar völlig in Takt, das Aushandeln von Interessen findet jedoch immer weniger in einem öffentlichen, politisierenden Prozess statt. Stattdessen werden diese geformt von einem vermeidlichen Imperativ wirtschaftlicher Notwendigkeiten und einem rechtlichen Regelwerk, welche die bereits erwähnte neoliberale Ideologie weiter vorantreibt (Ritzi 2014, 17ff).

Akzeptiert man die Idee einer Postdemokratie als Erklärungsansatz für das oft bemängelte diffuse „Demokratiedefizit“ europäischer aber auch nationaler politischer Institutionen und die damit einhergehende Entpolitisierung, die sich durch mangelndes Vertrauen in die politische Klasse und durch niedrige Wahlbeteiligung ausdrückt, hat dies direkte Folgen für jenes politische Projekt, das hinter einer sozial-ökologischen Transformation steht. Die suggerierte Alternativlosigkeit abzulehnen und den Fokus erneut auf Konflikt und Dissens als immanentes Element einer Demokratie zu legen, würde zu einer Repolitisierung beitragen. Damit ist keineswegs eine Neuauflage der klassischen links-rechts Schemata der Politik gemeint, die auch für die Idee einer progressiven sozial-ökologischen Transformation nicht gerade hilfreich wäre. Doch muss eine Repolitisierung in einem ersten Schritt dazu beitragen, bestehende soziale und ökologische Missstände und Herrschaftsverhältnisse wieder aus dem Schleier der neoliberalen Hegemonie an die Oberfläche politischer Austragungsorte zu befördern.

Der hier angedachte Prozess lässt sich mit der Hegelianischen Dialektik der dreifachen Aufhebung durchaus produktiv veranschaulichen. Betrachtet man aus historischer Perspektive den demokratischen Prozess vereinfacht als ein Pendel zwischen Konsens und Dissens, so kann es nicht das Ziel sein, die gegenwärtige, weitestgehend konsensbasierte Postdemokratie vollkommen zu beseitigen und lediglich zu den darin bewahrten Elementen dissensbasierter Demokratieformen zurück­zukehren. Vielmehr muss es Ziel einer sozial-ökologischen Transformation sein, das Demokratieverständnis durch die Synthese von Konsens und Dissens auf eine neue Ebene hinaufzuheben, um einem emanzipatorischem Anspruch gerecht zu werden.

Bei aller Theorie gilt es jedoch schlussendlich, diesen Prozess auf die praktische Bühne politischer Handlung zu überführen. Dabei können bereits historisch bewährte demokratische Widerstandsformen wie der zivile Ungehorsam behilflich sein, sich dem postdemokratischen Trend zu widersetzen und eine Repolitisierung der neuen Art zu bewirken. Provokant formuliert: „Entweder ist die allgegenwärtige Postdemokratie-Diagnose blühender Unsinn oder es ist vollkommen unverständlich, dass niemand gegen die marktkonforme Schrumpfdemokratie mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams zu Felde zieht“ (Dießelmann/Knobloch 2013, IV). Dieser zweiten Option widmet sich der folgende Abschnitt.

Ziviler Ungehorsam als legitimes Mittel zum Zweck?

Nach Hannah Arendt entsteht ziviler Ungehorsam, „wenn eine bedeutende Anzahl von Staatsbürgern zu der Überzeugung gelangt ist, dass entweder die herkömmlichen Wege der Veränderung nicht mehr offen stehen bzw. auf Beschwerden nicht gehört und eingegangen wird“ (Arendt 1986, 136). Der Gerechtigkeitsphilosoph John Rawls hat dazu folgende, heute weit verbreitete Definition geliefert: Demnach äußert sich ziviler Ungehorsam in öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten aber gesetzeswidrigen Handlungen, welche auf eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik abzielen (Rawls 1971, 364). Dabei wird die Rechtsordnung vorsätzlich verletzt und die damit verbundenen rechtlichen Folgen für das Individuum bewusst in Kauf genommen. Dies setzt ähnlich wie bei den oben geführten Erläuterungen zum Dissens eine gegenseitige Anerkennung bzw. Legitimität zwischen der Rechtsordnung und deren Anfechtung voraus und bewegt sich somit im Spannungsfeld zwischen Legitimität und Legalität, zwischen Moral und Recht. Ziviler Ungehorsam selbst ist nicht das Transformations­projekt, sondern vielmehr eine Methode derer man sich für die Unterstützung eines solchen Projektes bedienen kann. Er kann somit auch als Mittel zum Zweck verstanden werden. Damit unterscheidet sich ziviler Ungehorsam maßgeblich von revolutionären Umbrüchen, welche sich zum Ziel setzten, die Staatsform oder die grundlegende Verfassungsordnung abzulösen.

Ziviler Ungehorsam hat sich in vielen historischen Beispielen nicht nur als moralisch richtig erwiesen, sondern darüber hinaus zu großen demokratischen Errungenschaften beigetragen – beispielsweise in der rechtlichen Gleichstellung der Schwarzen in den USA (Taylor 2013). Er gilt damit als legitimer Mechanismus des Widerstands[3], da er dem Gewissensprivileg des einzelnen Bürgers eine Möglichkeit des Ausdruckes verschafft. Dies gilt besonders wenn bestehende Gesetzte und Rechte soziale Missstände oder neue Einsichten (z.B. die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Risiken des Klimawandels) nicht hinreichend antizipieren, wenn also die bestehenden legalen Mechanismen die Grundlagen des Zusammenlebens in einer Gesellschaft selbst verletzen. 

Probleme gegenwärtiger Flüchtlings- und Klimapolitik

Im Folgenden möchte ich diese Diskrepanz für den Fall der Europäischen Flüchtlingspolitik und des Klimawandels als zwei wesentliche Elemente einer sozialen und ökologischen Transformation exemplarisch beleuchten. Beide Themen stehen aufgrund ihrer – für die meisten Europäer noch –  abstrakten aber langfristigen Existenz in starkem Kontrast zu der strukturellen Kurzlebigkeit politischer Entscheidungs­prozesse und büßen somit ihre Relevanz auf der politischen Agenda ein. Jedoch gefährden eine Missachtung oder ein falscher Umgang mit beiden Themen die Grundlagen des demokratischen Zusammenlebens. Gleichzeitig ist die politische und rechtliche Ordnung bisher nicht auf einen adäquaten Umgang mit diesen Themen ausgelegt.

Für die Eindämmung des Klimawandels ist ein Ende der „fossilistischen Ära“ zwar empirisch gesehen dringend notwendig, jedoch fördern und schützen legale Mechanismen globaler Eigentumsrechte und Governance-Strukturen die kontinuierliche Umsetzung fossiler Ressourcen in Kapital (Brand/Wissen 2011). Bereits erschlossene weltweite Vorkommen von fossilen Energieträgern wie Kohle, Gas und Erdöl müssten zu großen Teilen ungenutzt im Boden bleiben um das wissenschaftlich als noch tragbar geltende und politisch breit akzeptierte 2-Grad Ziel an globaler Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Niveau einhalten zu können. Unterschiedliche Berechnungen schwanken zwischen 65% (McGlade/Ekins 2015) und 80% (McKibben 2012) an unverbrennbaren Energieträgern, möchte man den Emissionsausstoß tatsächlich entsprechend eingrenzen. Diese Anteile sind jedoch bereits jetzt durch Eigentumsrechte geschützt und zum Teil in Börsen- und Unternehmenswerte eingeschlossen. Somit treffen völlig unvereinbare macht- und finanzpolitische Interessen auf klimapolitische Notwendigkeiten. Eine Verhinderung der Nutzung dieser Rohstoffe kann nur konflikt­reich verlaufen.

Zugleich ist die Klimaentwicklung eng mit der Zunahme von Flüchtlingsströmen verknüpft. Klima- und Umweltmigration aufgrund von Dürren, Bodenerosion, Ver­steppung, Entwaldung und Anstieg des Meeresspiegels treffen dabei am stärksten den globalen Süden, der am wenigsten zur Verursachung des Klimawandels beigetragen hat. Schätzungen des Stern Report und Friends of the Earth zufolge werden bis 2050 weltweit etwa 200 Millionen Flüchtlinge aufgrund von Umwelt­einflüssen gezwungen sein, ihren Lebensraum zu verlassen (Oliver-Smith 2014, 148). Der größte Teil dieser Flüchtlinge wird innerhalb der eigenen Staatsgrenzen oder in unmittelbare Nachbarländer flüchten. Dabei sind in diesen Gebieten große ethnische Unruhen und Konflikte zu erwarten (beispielsweise in der dicht besiedelten asiatischen Region Bangladesch – Indien – Pakistan) während Europa als Flüchtlingsziel wohl verhältnismäßig selten angestrebt wird. Dennoch würde nur ein Bruchteil der zu erwartenden Flüchtlinge die aktuelle Flüchtlingsdebatte in Europa weit in den Schatten stellen. Gleichzeitig sind Klima­flüchtlinge nicht in die UN Flüchtlingskonvention integriert und haben somit keine rechtliche Grundlage, auf der Asylanträge gestellt werden können. Wenn es Ziel eines sozial-ökologischen Transformationsprojektes ist, derartige globale Ungleichheiten mitzudenken, tritt auch hier die Diskrepanz zwischen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen und dem „guten Leben für Alle“ zutage. Der folgende Abschnitt diskutiert zwei aktuelle Beispiele des zivilen Ungehorsams, die darauf abziehen, eben diese Rahmenbedingungen infrage zu stellen und zu verändern.

Im Boden graben – einmal dafür, einmal dagegen

Bekannt für seine öffentlich-politisierenden künstlerischen Aktionen kündigte das Zentrum für politische Schönheit im Zuge einer neuen Kampagne mit dem Titel „Die Toten Kommen“ an, „die Toten Einwanderer Europas von den EU-Außengrenzen in die Schaltzentrale des europäischen Abwehrregimes zu holen: in die deutsche Hauptstadt“ (ZPS 2015). Einige der menschenunwürdigen Grabstätten von Bootsflüchtlingen, die bei dem Versuch nach Europa zu gelangen, ertrunken sind, sollten geöffnet werden, um die verstorbenen Flüchtlinge anschließend menschenwürdig und entsprechend ihrer religiösen Bräuche in Deutschland beizusetzen. Im Zuge dieser extrem politisierenden und medial diskutierten Kampagne fand am 21. Juni 2015 eine Demonstration mit mehreren tausend Menschen im Berliner Regierungsviertel statt. Was anfänglich eine konventionelle Demonstration zur Kritik an der Europäischen Flüchtlings­politik zu sein schien, verselbstständigte sich spontan zu einem „wunderschönen Akt zivilen Ungehorsams“ (Hpd, 2015). Tausende Demonstrantinnen und Demonstranten besetzten friedlich die Wiese vor dem Reichstagsgebäude, um diese binnen Minuten in ein symbolisches Gräbermeer zu verwandeln (Abbildung 1). Im Laufe der darauf folgenden Tage breitete sich die Aktion aus und es wurden symbolische Gräber für Flüchtlingstote in ganz Europa errichtet, unter anderem auch in Wien (Abbildung 2).

Das zweite Beispiel legt den primären Fokus auf die Klimapolitik. Mitte August 2015 ist im Rheinischen Braunkohlerevier bei Köln, als größter CO2-Verursacher Europas, nicht nur eine Sommerschule zum Thema „Degrowth“ und ein Klima-Camp geplant, sondern auch eine Aktion des zivilen Ungehorsams in Form einer Besetzung des Kohletagebaus (Abbildung 3). „Angesichts der Dringlichkeit des Klimaproblems halten wir es für notwendig und angemessen, diesen Schritt vom öffentlichen Protest zum zivilen Ungehorsam zu gehen“ (Ende Gelände 2015), schreibt das Aktionsbündnis auf seiner Homepage. Zudem versteht sich das Bündnis als „Teil der globalen, grenz­übergreifenden Bewegung für Klimagerechtigkeit”. Damit wird die globale Dimension der lokalen, öffentlich angekündigten und friedlichen Besetzung des Tagebaus hervorgehoben. Die Aktion soll die Arbeit der privatwirtschaftlichen Kohlebagger stoppen und damit das Klima schützen. Besondere Relevanz hat diese Aktion allerdings für die öffentliche Wahrnehmung in Bezug auf die Legalität und den Ausbau von Kohleverstromung als Treiber des Klimawandels, in Kontrast zu der Legitimierung von radikalen Handlungen, welche darauf abzielen den Klimawandel einzudämmen.

Beide Aktionen rücken jeweils den sozialen und ökologischen Aspekt eines oben skizzierten Transformationsprojektes in den Fokus. Sie zeigen anschaulich, wie Teile der Bevölkerung ihr Recht auf Demokratie in Form von zivilem Widerstand als unkonventionelle Beteiligungsmethode wahrnehmen, da konventionelle Einfluss­möglichkeiten bei den Themen Flüchtlingspolitik und Klimawandel zu kurz greifen. 

Neue Spuren des Ungehorsams – geschmacklos, radikal, notwendig?

Im ersten Beispiel beschränkt sich die Gesetzeswidrigkeit auf ein sehr überschaubares Ausmaß und wurde zudem vorher nicht direkt und klar angekündigt. Ob die Aktion damit im rein definitorischen Sinne ziviler Ungehorsam war, kann man durchaus diskutieren. Allerdings geht es vielmehr um den symbolischen Charakter, verkörpert durch die Moralvorstellungen der Bürgerinnen und Bürger, die fundamental mit den gegenwärtigen politischen und rechtlichen Bedingungen in Diskrepanz stehen. Dieser Konflikt wird öffentlich zur Schau gestellt, in der Hoffnung, dass sich die Entscheidungsträger diesem nicht weiter entziehen können. Die medialen Reaktionen reichten von Zustimmung bis zum Vorwurf der Geschmacklosigkeit, der Selbst­inszenierung. Auch gab es Diskussionen zur Frage, wer denn nun den kaputten Rasen reparieren solle. Gerade die ablehnenden Reaktionen zeigen, wie schwach die Möglichkeit der Austragung von Dissens in Form von zivilem Ungehorsam als demo­kratische und emanzipatorische Methode in der politischen Kultur verankert ist. Wenn die Mittel zwar kritisiert aber der Zweck nicht mehr begriffen wird, ist der postdemokratische Moment vollkommen erreicht.

Auch wenn das zweite Beispiel zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Textes erst in Planung ist, kann man bereits jetzt vermuten, dass als Reaktion auf die Aktion nicht mit Kritik an den durchführenden „radikalen Spinner“ gespart wird. In diesem Zusammenhang fällt gerne der Vorwurf, derartige Aktionen zielten lediglich darauf ab die soziale Ordnung zu stören. Ironischerweise liegen die Kritiker damit nicht einmal falsch. Interessant ist allerdings, dass dies nur in einem konsensorientierten Raum als Vorwurf gelten kann. Versteht man Demokratie als ausgelebten Dissens, verwandelt sich der Vorwurf eher in ein Kompliment funktionierender demokratischer Mechanismen, sofern sich die Aktion an die Kriterien zivilen Ungehorsams hält. Denn während das Beispiel der Flüchtlingspolitik die europäische Öffentlichkeit in ihrem Umgang mit Flüchtlingen eher irritieren wollte, geht die Blockade des Tagebaus weiter. Sie zeigt, wie die derzeit­igen Verhältnisse von Eigentumsrechten dem gemeinschaftlichen Interesse – der Eindäm­mung des Klimawandels – fundamental im Weg stehen können. Derartige Konflikte können nicht, wie Habermas hofft, im allgemeinen Konsens beigelegt werden. Dementsprechend wird auch eine sozial-ökologische Transformation und das „Legen neuer Spuren“ nicht ausschließlich konfliktfrei verlaufen.

Ein erfolgreiches Transformationsprojekt sollte sich somit verstärkt des zivilen Ungehorsams aus dem Methodenkasten demokratischer Konfliktaustragung bedienen. Dabei geht es nicht nur darum, politische Inhalte zu transportieren. Ziviler Ungehorsam kann dazu beitragen, Konfliktdimensionen eines Problems ans Tageslicht zu befördern, die unter den Bedingungen einer postdemokratischen Ordnungsroutine ungehört bleiben. Die demokratische politische Kultur wird damit weiterentwickelt, oder – um Hegel wieder aufzugreifen – auf eine neue Stufe gehoben. Dieser Prozess erfordert zuerst eine Reflexion der strukturellen gesellschaftlichen Kritik der Aktion („Welche grundlegenden Botschaften wollen transportiert werden?“), um im Anschluss aus dem entstandenen Konflikt die konkreten Schlüsse für politische und gesellschaftliche Alternativen zu ziehen („Welche Handlungen ergeben sich daraus?“). Diesen Mehrwert zu erkennen und wertzuschätzen ist Aufgabe aller, nicht nur derer, die eine bestimmte Aktion inhaltlich unterstützen. In der Überwindung der Postdemokratie zu einem sozial-ökologischen Transformations­projekt müssen also auch neue Spuren des Ungehorsams entdeckt werden. 

Literatur

Arendt, Hannah. 1986. „Zur Zeit. Politische Essays“. Berlin: Rotbuch.

Brand, Ulrich / Wissen, Markus. 2011. „Die Regulation der ökologischen Krise – Theorie und Empirie der Transformation gesellschaftlicher Naturverhältnisse”. Österreichische Zeitschrift für Soziologie 36 (2): 12-34.

Brand, Ulrich. 2014. „Transition und Transformation: Sozialökologische Perspektiven“. In: Brie, Michael (Hrsg.) Futuring – Perspektiven der Transformation im Kapitalismus über ihn hinaus. Münster: Westfälisches Dampfboot. 

Dießelmann, Ana-Lena / Knobloch, Clemens. 2013. „Ziviler Ungehorsam“. Nachdenkseiten – Die kritische Website. Zugriff am 26.6.2015 

Doerr, Nicole. 2013. „Zwischen Habermas und Rancière: die Demokratie politischer Übersetzung“. European institute for progressive cultural policies (EIPCP). Zugriff am 24.6.2015 

Ende Gelände. 2015. Homepage Aktionsbündnis Kohlebagger stoppen, Klima schützen. Zugriff am 29.6.2015 

Habermas, Jürgen. 2001. „Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft“. Stuttgart: Reclam.

Habermas, Jürgen. 2015. „Warum Merkels Griechenland-Politik ein Fehler ist. Süddeutsche Zeitung Online. Zugriff am 22.6.2015 

Hpd 2015. „Ein wunderschöner Akt des zivilen Ungehorsams“. Humanistischer Presse Dienst Online. Zugriff am 22.6.2015 

McGlade, Christophe, Ekins, Paul. 2015. „The geographical distribution of fossil fuels unused when limiting global warming to 2°C“. Nature 517: 187-190.

McKibben, Bill. 2012. „Global Warming’s Terrifying New Math”. Rolling Stone. Accessed 28 April 2015 

Mouffe, Chantal. 2008. „Das demokratische Paradox“. Wien: Turia & Kant.  

Mouffe, Chantal. 2011. „Postdemokratie und die zunehmende Entpolitisierung“ In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Postdemokratie? APuZ 1-2/2011. Zugriff am 24.6.2015 

Oliver-Smith, Anthony. 2014. „Environmental migration: nature, society and population movement“. In: Lockie, Steward / Sonnenfeld, David A. / Fisher, Danna R. (Hrsg.): International Handbook of Social and Environmental Change. London: Routledge. 

Rawls, John. 1971. „A Theory of Justice“. Cambridge: Harvard University Press. 

Ritzi, Claudia. 2014. „Die Postdemokratisierung politischer Öffentlichkeit“. Wiesbaden: Springer VS. 

Sommer, Bernd / Welzer, Harald. 2014. „Transformationsdesign – Wege in eine zukunftsfähige Moderne”. München: Oekom Verlag.

Taylor, Bron 2013.  „Resistance: do the ends justify the means?“ In: The World Watch Institute (Hrsg.): State of the world 2013, is sustainability still possible? Washington: Island Press. 

ZPS 2015. Homepage des Zentrums für politische Schönheit. Zugriff am 29.6.2015