Nachhaltigkeit in Zeiten des Wachstumsdilemmas
Nachhaltigkeit, eine begriffliche Zumutung.
Nachhaltigkeit ist eine schlichte Überlebensfrage, vom Begriff her aber eine einzige Zumutung: Allgegenwärtig und bedeutungsoffen führt er zu vielfältigen, sich mitunter widersprechenden Zielvorstellungen. Diese Konflikte werden hierarchisch gelöst: Gelingt es nicht, sie miteinander zu „versöhnen“, dann werden normative Ansprüche wie „intergenerative Gerechtigkeit“ dem dominanten, marktlogischen Nachhaltigkeitsverständnis „wettbewerbsfähige Marktpräsenz“ untergeordnet. Die gescheiterten Klimaziele führen es vor Augen: Das werteorientierte „integrative Nachhaltigkeitsverständnis“, welches gleichzeitig ökonomische, soziale und ökologische Ziele berücksichtigen will, bleibt tendenziell ein Lippenbekenntnis. Für Politik und Wirtschaft finden sich immer wieder „zwingende“ Umstände, diesen idealtypischen Zustand aufzuschieben. Aufschlüsse über diese organisierte Unvernunft liefert eine historisch-kulturelle Betrachtung des Philosophen Peter Heintel, welche den Bedeutungswandel von Nachhaltigkeit in den Blick nimmt.
In welcher Nachhaltigkeitskultur leben wir?
Vorneuzeitliche Nachhaltigkeit steht für dauerhafte Stabilität durch sakrosankte „letzte Wahrheiten“ und die „Wiederkehr des Gleichen“. Sie kennzeichnete frühe Naturvölker aber auch spätere religiös fundierte Kulturen und ständische Ordnungen. Im ausgehenden Mittelalter wurde diese fremdbestimmte „Sicherheit“ durch die Entdeckungen der Neuzeit erschüttert. Sie verhalfen allmählich dem Gedankengut der Aufklärung zum Durchbruch: Das neue Weltbild bricht mit Tabus, Denk- und Freiheitsverboten und glaubt an die freie Weiterentwicklung des Menschen aus sich heraus. Fortschritt wird zur Pflicht. Wissenschaft, Technik und kapitalistische Wirtschaft sind die Garanten für die Befreiung von (physischen) Zwängen. Nachhaltigkeit bedeutet für die Menschen zuallererst Freiheit. Dem ökonomischen System gelingt es im Zeitverlauf, alle übrige Rationalität der ökonomischen zu unterwerfen und zu kontrollieren. Durch weltweite industrielle Produktion und omnipräsente Konsumstrukturen, die es Gesellschaften nahe legen, alle ihre Bedürfnisse über die Angebote des profitorientierten Marktsystems zu befriedigen.
Logik des Sachzwangs.
Der unbestrittene Erfolg der neuzeitlichen Nachhaltigkeitskultur wirft mittlerweile unübersehbare Schatten. Selbstbestimmung wird zunehmend durch eine neue, selbstverursachte Fremdbestimmung verunmöglicht. Letztere beruht auf maßlosem Freiheitsgebrauch und stützt sich auf die „Logik des Sachzwangs“: Vormals sinnvolle Grundsatzentscheidungen und damit verbundene Denkmuster und Handlungsstrategien erscheinen wie in Stein gemeißelt, auch wenn sie sich „überlebt“ haben. Das Festhalten an Glaubensbekenntnissen wird mit interessengeleiteten Sachzwängen begründet, entsprechender Widerstand entwertet. So erweist sich etwa die weltweit ungebrochene Forcierung der wettbewerbs- und angebotsorientierten Überschussproduktion, einst im Dienste der Mangelbewältigung und Wohlstandsentwicklung geschaffen, zunehmend als Bumerang. Sie führt in gesättigten und nachholenden Ökonomien zu Dekadenz und Verschwendung. In der Dritten Welt zerstört sie regionale Lebensgrundlagen und befördert dadurch soziale und Umweltprobleme, mit zunehmender Rückwirkung auf die „fortschrittlichen“ Industrieländer. Das Programm „Alternativlosigkeit“ erzeugt Unbehagen und führt unweigerlich zu einer Abwärtsspirale. Aktuell tritt es besonders eindrücklich in Gestalt des Wachstumsdilemmas in Erscheinung.
Das Wachstumsdilemma.
Einerseits sprechen harte Fakten für die ungebrochene Legitimation der Wachstumswirtschaft: Das weltweite Bevölkerungswachstum, die weitgehend noch unbefriedigten Grundbedürfnisse in Drittweltländern, die wachstumsabhängige Staats- und Unternehmensfinanzierung. Andererseits verursacht der durch den globalen Wettbewerb verstärkte Wachstumszwang bereits zahlreiche Probleme: Er beschleunigt den Klimawandel, belastet in zunehmenden Maße irreversibel die Umwelt, verknappt natürliche Ressourcen und verschärft damit weltweit Verteilungskonflikte. Gesamtgesellschaftlich ist die verinnerlichte Steigerungslogik bereits als „Sinn- und Beschleunigungskrise“ wahrnehmbar.
Bewältigungsstrategien.
Aktuelle politische Entscheidungen verstärken das Wachstumsdilemma. Auch wenn das Problem „Wachstumsabbremsung“ aus der Nachhaltigkeitsperspektive befremdet und die Bewältigungsstrategie „mehr Wachstum“ in Zeiten der sich verschärfenden ökologischen Krise als unzulässig erscheint: Gesättigte Industrienationen bekämpfen diesen eigendynamischen Trend energisch durch die verstärkte Forcierung von Finanzmarkt-Wachstum. Dieses befördert die kreditfinanzierte Spekulation und somit potenzielle Finanzkrisen. Vermehrte Wertvernichtungen und fortschreitende Vermögenskonzentration sind die Folge. Obwohl die Eurokrise Systemwidersprüche offenbarte, verfolgten die Krisenmanager*innen primär das Ziel, den alten Zustand wiederherzustellen: Es galt die Finanzmärkte zu beruhigen, um im Dienste des Wachstumsparadigmas möglichst rasch zum vormaligen Kreditboom und zum Wettbewerb der Güteranhäufung zurückzukehren. Unter dem Druck amerikanischer Ratingagenturen nahmen sie für die südlichen Krisenländer rigorose Sparauflagen mit fragwürdiger Lastenverteilung und demokratiegefährdender Wirkung in Kauf.
Wie könnte nun eine Befreiung vom Joch des Wachstumszwangs aussehen? Die Bewältigungsstrategie ´Qualitatives Wachstum´ gab einst Anlass zur Hoffnung, es mangelt ihr aber noch an Voraussetzungen.
Falsche Rahmenbedingungen.
Zum einen wird mit dem etablierten Wachstums- und Wohlstandmaß ´BIP´ nach wie vor ein ungeeignetes Maß zugrunde gelegt. Es weist ökologische und soziale Reparaturkosten so wie den Abbau nicht erneuerbarer Ressourcen als Zuwachs aus. Zum anderen erweisen sich die Preissignale des Marktes als kontraproduktiv: Fair und nachhaltig produzierte Produkte führen ein Nischendasein, weil sie vergleichsweise teuer sind. Die im Vergleich zum Produktionsfaktor Arbeit stark unterbewertete Energie ist wesentlich für den zunehmenden Wachstumszwang und den damit verbundenen Globalisierungs- und Rationalisierungsdruck verantwortlich. Vor diesem Hintergrund erscheint auch der Wachstumsmarkt „Ökoeffizienztechnologie´ als Farce: Unter den ökonomischen Rahmenbedingungen „Niedrig-Energiepreispolitik“ und „ökokompatible Profitmaximierung“ werden Einsparungen sofort in Mehrproduktion investiert. Grünes Wachstum verschiebt zwar die Wachstumsgrenzen, kann aber für sich noch nicht den Wandel zugunsten von nachhaltiger Entwicklung bewerkstelligen. Vor allem die weltweit wachsenden sozialen Unterschiede lassen befürchten, dass die soziale Krise virulent wird, noch bevor die ökologischen Grenzen überschritten werden.
Nachhaltige Entwicklung, eine gesellschaftliche Reflexionsaufgabe.
Nachhaltigkeit als abstraktes, wertebasiertes und absolut gesetztes Langfristziel überfordert eine Gesellschaft, die sachzwänglich für die Bekämpfung der Wachstumsabbremsung vereinnahmt wird. Solange sie nicht als Prozess und permanente Gestaltungsaufgabe seitens der Betroffenen begriffen wird, hat sie keine Chance auf Umsetzung. An der Schwelle zu einer neuen Nachhaltigkeitskultur ereignet sich die u.a. von Heintel geforderte kollektive Systemreflexion noch auf Nebenschauplätzen. Sie ist eine zentrale Voraussetzung, um alternative Wachstumsmöglichkeiten zu erschließen. Auch um Freiheiten (zurück) zu gewinnen, welche die Wahlfreiheit von Konsument*innen qualitativ übertreffen.
Die Autorin, Gerhild Schutti, studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Philosophie. Sie ist Mitglied des Redaktionsteams der Grünen Bildungswerkstatt Wien.
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