Novy - Gab es eine neoliberale Wende?
Freys Argument basiert auf der richtigen empirischen Feststellung, dass eine der neoliberalen Kernforderungen, nämlich der Rückzug des Staates nicht stattgefunden hat. Der neoliberalen Rhetorik steht eine reale Entwicklung gegenüber, die sich durch stagnierende Sozialausgaben, steigende Staatsquoten und in Europa stark steigende Staatsverschuldung auszeichnet. Voreilig deutet Frey dies als Beweis für die fehlende neoliberale Wende.
Es zählt zu den Verdiensten Thomas Pikettys[1] das, was gegenwärtig passiert, in größere Zusammenhänge einzubetten. Seine Langfristdaten zeigen, dass sich für einen kurzen Zeitraum, insbesondere in den drei Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg, in Westeuropa und Nordamerika eine Wirtschaftsordnung etablierte, in der Kapitalverkehr beschränkt wurde, dafür aber vor Ort wohlfahrtsstaatliche Strukturen geschaffen wurden. Einkommens- und Vermögensverteilung wurden ausgeglichener, sozialer Aufstieg wurde möglich.
Freiheit statt Demokratie
Den Neoliberalen ging es von Anfang an darum, diese Machtverschiebungen des demokratischen Wohlfahrtsstaats rückgängig zu machen. Kein Zufall, dass das erste neoliberale Realexperiment die chilenische Militärdiktatur unter General Pinochet (1973-1989) war. In seinem Hauptwerk „Die Verfassung der Freiheit“ fordert der neoliberale Vordenker Friedrich August von Hayek eine Ordnung, die den Status Quo durch ein Rechtssystem und einen Polizeiapparat sichert. Es ging auch Thatcher und Reagan um Ordnung – und dazu braucht es einen starken Staat.
Hayek war sehr klar in seiner Forderung nach einem Rechtssystem, das nicht durch Mehrheiten veränderbar ist. TTIP wäre ganz nach seinem Geschmack. Neoliberale Ordnungen sollen den Millionär, der ja durch die Anhäufung seines Vermögens seine gesellschaftliche Nützlichkeit erwiesen hat, davor schützen, dass Bettler, Billakassiererin, Programmierer und Universitätslektorin auf demokratischem Weg gemeinsam eine neue Sozialordnung schaffen, in der niemand unter der Brücke schlafen muss – weil Wohnen leistbar ist.
Freiheit der Stärkeren
Diese Freiheit der Stärkeren hat in Europa und Nordamerika in den letzten 40 Jahren immer öfter über die Demokratie gesiegt. Gegenwärtig erleben wir eine weitere Radikalisierung: Überall erodieren in Europa soziale Sicherungssysteme. Die Zahl der von Armut Betroffenen ist in der EU von 2010 bis 2012 um 6,6 Mio. gestiegen. 2012 waren innerhalb der EU 124,2 Mio. armutsgefährdet; die Jugendarbeitslosigkeit erreicht Rekordhöhen. Während europäische Politik wortgewaltig, aber tatenlos die Zerstörung von Lebenschancen zur Kenntnis nimmt, wird jede Gelegenheit genutzt, Überwachung und Polizeiapparat zulasten persönlicher Freiheitsrechte auszubauen.
Der Niedergang der Sozialdemokratie und der Aufstieg eines elitär-autoritären Neoliberalismus ging einher mit dem Umbau des Staates. Die Handlungsbereitschaft nach den Terroranschlägen macht die Tatenlosigkeit angesichts der Tragödien im Mittelmeer und der humanitären Krise in Griechenland umso empörender. Sie zeigt, wie sehr sich Staatsfunktionen und Staatsinteressen in den letzten Jahren weg von der sozialen Sicherheit hin zu einem Sicherheitsapparat verschoben haben, der nur schwer zu kontrollieren ist. Aber dieser Trend ist nicht unumkehrbar.
Die Utopie eines guten Lebens für alle erinnert daran, dass es anders war und daher wieder anders werden kann. Sie erinnert an die Einsichten aus Weltwirtschaftskrise und Weltkriegen, dass es für die Entfaltung von Freiheit Voraussetzungen braucht, die ein Gemeinwesen zu schaffen hat. Zuerst einmal durch ein klares Bekenntnis: Nie wieder Krieg! Und dann durch gute Schulen, in denen Bildung nicht vererbt wird; ein gutes Gesundheitssystem ohne Klassenmedizin und ein Entlohnungssystem, in dem die Schere zwischen arm und reich nicht weiter zunimmt.
[1] Siehe die Website http://piketty.pse.ens.fr/en/capital21c zu „Capital in the Twenty-first Century“ von Thomas Piketty. Dort finden sich alle Graphiken und Tabellen des Buches
Andreas Novy ist Professor an der WU Wien und Obmann der Grünen Bildungswerkstatt.