Sexarbeit – Mythos und Realität.

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Pünktlich um 18:00 eröffnet Faika El-Nagashi, sozialpolitische Referentin des Grünen Klubs im Rathaus und Moderatorin des heutigen Abends die Veranstaltung. In der Vorstellungsrunde wird klar, das Thema interessiert nicht nur Grüne Funktionär*innen. Auch Sozialarbeiter*innen und Menschen jenseits von Bezirksorganisationen freuen sich auf einen spannenden, informativen und interaktiven Abend.
Begriffe und Assoziationen.
El-Nagashi erklärt, Sexarbeit sei für die Grünen ein wichtiges, gesellschaftspolitisches Thema. Daher habe man sich für diese Veranstaltungsreihe, eine Kooperation des Grünen Rathausklubs mit der Grünen Bildungswerkstatt Wien, entschieden. Die Ziele heute seien unter anderem, eigene Zugänge zum Thema Sexarbeit zu reflektieren, persönliche Haltungen und Bilder zu hinterfragen sowie Begriffe abzuklären. „Welche Assoziationen habt ihr zu den Begriffen Sexarbeit und Prostitution?“, fragt El-Nagashi und lädt die rund 20 Teilnehmenden ein, diese auf ein Flipchart zu schreiben. „Lohndumping, Freiwilligkeit?, Ambivalenz, fordernder Job, ständige Verfügbarkeit der Frauen, Menschenhandel, Stigma, Verdrängung aus öffentlichem Raum, fehlende Anerkennung, Sexarbeit ist Menschenrecht, kriminalisiert, kein normales Leben, Arbeit, Polizeikontrollen“ steht schlussendlich auf dem Papierbogen.
Was stelle ich mir unter Sexarbeit vor, was finde ich gut daran, was nicht? Und: Welchen Austausch hatte ich bisher mit Sexarbeiter*innen? Diese Fragen sollen die Teilnehmer*innen in weiterer Folge in Zweiergruppen besprechen und anschließend vor allen präsentieren. Dabei stellt sich heraus, dass Verdrängung aus der Gesellschaft und Kriminalisierung als kontraproduktiv und negativ gesehen werden. Auch eine fehlende arbeitsrechtliche Absicherung wird kritisiert, ebenso wie Zwang, Gewalt und Ausbeutung. Eine Teilnehmerin meint, dass die psychische Belastung von Sexarbeiter*innen enorm sein müsse. Ferner würden die Betreiber von Laufhäusern und Bordellen Wucherpreise von den Arbeitenden verlangen. Diese wiederum könnten ihre Dienstleistungen oft nur zu Dumpingpreisen anbieten.
Positiv hingegen bewerten es die Teilnehmenden, wenn Sexarbeit auf Freiwilligkeit basiert. Wie zum Beispiel bei Susanne*, einer Sexarbeiterin aus Wien.
Vom Büro in die Sexarbeit.
Susanne berichtet von den Anfängen ihrer Sexarbeit. Nach rund zwei Jahrzehnten im Büro und weil das Gehalt nicht mehr ausreichte, habe sie begonnen abends, nach Büroschluss Sexarbeitstermine wahrzunehmen. Damals sei sie aufgrund der beruflichen Doppelbelastung nahe am Burnout gewesen. Schließlich habe sie sich aber entschlossen, den Bürojob aufzugeben und selbstbestimmt als Sexarbeiterin und unberührbare Domina zu arbeiten. Eine dominante Disposition habe sie schon immer gehabt und bereits früher Männer ans Bett gefesselt.
Ob die Sexarbeit sie psychisch belaste, fragt eine Teilnehmende. Susanne verneint dies und erklärt, sie arbeite die Wünsche ihrer Kunden strikt ab. Dabei sei sie zwar körperlich nahe am Kunden, seelisch aber nicht involviert. Oft denke sie an ganz banale Dinge wie Haushalt oder Fernsehprogramm. Davon merke der Kunde aber nichts, betont die Sexarbeiterin.
Außerdem verweist sie auf mehrere Zusatzausbildungen im psychologischen Bereich, die ihr bei der Arbeit und im Umgang mit den Männern zugute kämen.
Eine andere Teilnehmerin möchte wissen, wie sie mit unangenehmen oder potentiell gefährlichen Kunden umgeht. „Ich selektiere sehr stark“, sagt Susanne. Bereits am Telefon erkenne sie an der Stimme, wie jemand drauf sei und entscheide dann, ob sie ihn empfangen wolle oder nicht. „Es kommt schon vor, dass ich jemanden ablehnen muss.“ Dies tue sie aber auf freundliche, nicht verletzende Weise und werde dabei nie persönlich.
Überhaupt sei „lieb sein“ ein wirksamer Schutz vor verbalen und anderen Übergriffen. Letztendlich sind Sexarbeiter*innen Expert*innen in der Deeskalation potentiell gefährlicher Situationen. Sie selbst fühlt sich sicher und sollte es doch einmal Probleme geben oder ein Stalker auftauchen, würden ihr die Menschen von Sexworker – eine Selbstorganisation von Sexarbeiter*innen im deutschsprachigen Raum – mit Rat und Tat zur Seite stehen, sagt Susanne.
Zwangsuntersuchung und Fremdenfeindlichkeit.
Vertreter*innen von Sexworker sind auch unter den Teilnehmenden. Sie berichten von Sexarbeit am Rande der Legalität, im gesetzlichen Graubereich. Vor allem der gesetzliche Zwang zur wöchentlichen Pflichtuntersuchung, um die „Grüne Karte“, vulgo „Deckel“ zu bekommen, halte viele davon ab, sich als selbständige Sexarbeitende registrieren zu lassen.
„Zu sagen, ich nehme dir deine Arbeitsberechtigung weg, wenn du nicht auf den Gynäkologenstuhl gehst, ist reinster Zwang“, kritisiert Christian Knappik von Sexworker. Weder würden den Sexarbeiter*innen ihre Befunde mitgeteilt noch würden sie im Fall einer Krankheit behandelt. Außerdem gebe es zurzeit für rund 3.870 registrierte Prostituierte nur drei bis vier Ärzt*innen.
Vonseiten amtshandelnder Polizisten seien ausländische- und Sexarbeiter*innen mit Migrationshintergrund immer wieder extremer Fremdenfeindlichkeit ausgesetzt; auch Menschenrechte würden permanent verletzt, kritisiert Knappik.
Nicht nur Sonnenschein.
Zwar überwiegen für Susanne die Vorteile ihrer selbständigen Arbeit und sie würde keinesfalls wieder ins Büro zurück wollen, aber trotzdem sei es hart verdientes Geld. „Als Domina muss ich meinen Kunden zu tausend Prozent kontrollieren“, sagt sie. „Das ist so anstrengend, dass ich nach zwei Stunden erledigt bin.“ Daher könne sie reine Domina-Termine inzwischen nur mehr selten wahrnehmen. Trotzdem wolle sie ihren Beruf aber bis zur Pensionierung ausüben.
Am Ende der Veranstaltung bedanken sich alle Teilnehmenden bei Susanne für ihre Offenheit und Einblicke in eine nicht alltägliche Arbeit.
Susanne selbst würde sich wünschen, dass ihre Arbeit nicht länger gesellschaftlich stigmatisiert wäre, und gesetzliche Graubereiche sowie Zwangsuntersuchungen von Prostituierten bald der Vergangenheit angehören.
Moderatorin El Nagashi hebt abschließend den wertschätzenden und achtsamen Umgang aller Teilnehmenden miteinander als positiv und „nicht selbstverständlich“ hervor.
* Name von der Redaktion geändert.
Die Autorin, Karina Böhm, hat Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Wien und São Paulo studiert. Sie ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.
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