Systematisierung von Erfahrungen
Was ist mit einer „Systematisierung“ gemeint? Über welche Stärken verfügt sie? Wo stößt sie an ihre Grenzen? Diesen und weiteren Fragen wurde im Verlaufe des Abends nachgegangen. Auch konnte durch die zahlreichen Inputs vermittelt werden, dass für die Methode, die ursprünglich aus dem lateinamerikanischen Raum stammt, durchaus auch Platz und Notwendigkeit in Österreich gegeben ist.
Bedeutung für die Praxis und Voraussetzungen.
In ihrer langjährigen Tätigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit habe Schmid beobachtet, dass zwischen Theorie und Praxis im Allgemeinen oft eine große Kluft bestehe. Was sich in der Theorie meist als völlig logisch und machbar darstelle, erweise sich in der Praxis häufig als viel schwieriger und in der vorgesehenen Art und Weise nicht realisierbar. Genau an diesem Punkt setzt die Systematisierung von Erfahrungen an, die versucht, den Spalt zwischen dem, was wir für richtig halten und dem, was sich als effektiv erweist, zu überwinden.
Essentielle Aspekte des Konzeptes sind die Fähigkeit zur Selbstreflexion und die Bereitschaft, eigene Fehler zuzugeben und daraus für die Zukunft zu lernen. Klingt nach wenig – ist aber viel. Der Tradition Paulo Freires folgend, wird der Mensch als Wesen verstanden, das dazu prinzipiell in der Lage ist, das eigene Leben selbst zu gestalten. Und auch bei der Systematisierung wird Bildung als Dialog verstanden – jedeR ist selbst LehrendeR und zugleich LernendeR. Bildung als ständiges Fragen und Antworten, um das eigene Leben zu verstehen. Denn erst Verstehen ermöglicht Handeln, Veränderung.
Wie geht man nun aber vor, wenn man sich dazu entschließt, die Methode anzuwenden? Zu Beginn müsse Schmid zufolge festgelegt werden, welche Erfahrung überhaupt systematisiert werden soll. Dabei sei es besonders wichtig, sich intensiv mit dem Kontext zu beschäftigen: Welche historischen, kulturellen und anderen Umstände können die Erfahrung beeinflusst haben? Wie ist es mir als Subjekt mit dem Erlebten gegangen?
Diese Subjektivität sei etwas, das die Methode der Systematisierung klar von einer wissenschaftlichen Studie oder einer Evaluation unterscheide, denn letztere seien stets darum bemüht, möglichst objektiv an eine Sache heranzugehen, betont Schmid. Zwar sei es nötig, das, was systematisiert werden soll, zunächst möglichst wertfrei aufzuzeichnen, doch gehe es im Endeffekt ja gerade darum, zu erfahren, wie das Ganze aus den unterschiedlichen Perspektiven aller Teilhabenden erlebt wurde.
Möglichkeiten und Ziele.
Wann kann man von einer „erfolgreichen“ bzw. „gelungenen“ Systematisierung von Erfahrungen sprechen? Als mögliches Ziel der Methode formuliert Schmid einen sogenannten „Aha-Effekt“: Plötzlich versteht man etwas, was man vorher vielleicht gar nicht benennen konnte, was man gar nicht beachtet hat. Solch ein Effekt – und auf größerer Ebene ein „erfolgreicher“ Systematisierungsprozess – sei allerdings nur unter der Bedingung möglich, dass alle am Prozess Beteiligten gleichberechtigt einbezogen werden. Jede Perspektive hat gleiches Gewicht, auch wenn sich diese Perspektiven stark voneinander unterscheiden.
„Gegenseitige Achtung, Wertschätzung und Respekt, wie sie auch von Paulo Freire betont werden, sind essentiell“, ist Schmid überzeugt. Wenn die Voraussetzungen gegeben seien, habe diese Form des Wissensmanagements enormes Potenzial: Einerseits ermögliche sie das Sichtbarmachen von implizitem Handeln und Wissen, andererseits schaffe sie Räume der Begegnung und die Basis für positive Veränderungen.
Auch Faschingeder, der im Anschluss an Schmids Inputs diese kommentiert, erkennt klare Stärken einer Herangehensweise wie jene der Systematisierung. Wichtig erscheint ihm zunächst, sich mit dem Begriff der Erfahrung näher zu befassen: „Enthält dieses Wort nicht Bewegung? Steckt darin nicht das ‚Fahren‘?“ Auch wenn dieses Wortspiel möglicherweise als etwas „hergeholt“ erscheine, zeige es doch auf, dass im Erfahren ein sinnliches Element enthalten sei. Während ein gängiges Sprichwort besage, dass man „aus Erfahrung klug werde“, sei die Rolle der Erfahrung im Bildungskontext bestenfalls sekundär. Dies sei jedoch paradox, denn im Schulalltag gebe es so Vieles, was es wert sei, „systematisiert zu werden“.
Einen möglichen Grund dafür, dass die Bedeutung von Erfahrungen im Bildungskontext oft nicht wahr- bzw. ernstgenommen werde, sieht Faschingeder darin, dass Erfahrung stark subjektiv sei und stets vage bleibe. Damit stehe sie im Kontrast zu sicherem Wissen, das von Institutionen verlangt werde und in Schulen vermittelt werden solle. Im Lernprozess des Menschen müsse es in der Denktradition Freires jedoch um mehr als reine „Empirie“ gehen: darum, die Welt lesen zu lernen. Und dies sei etwas durchwegs Sinnliches und Praxisbezogenes, betont Faschingeder.
Grenzen von Systematisierungsprozessen.
An dieser Stelle stößt die Methode auch auf die Widerstände, die ihre Grenzen festlegen: Strukturen, Hierarchien.
Beim Systematisieren, so Schmid und Faschingeder, lerne der Mensch sich selbst als dialogisches Wesen und Herrscher*in der eigenen Geschichte zu verstehen. Wer sich dazu entschließe, bestimmte Erfahrungen zu systematisieren, müsse sich für Kritik und die Sichtweisen anderer Menschen öffnen, sich dazu bereit erklären, eigene Fehler einzugestehen. Oft sei allerdings das Gegenüber – ob als Institution oder Einzelperson – an einer derartigen Selbsterfahrung nicht interessiert, da sie dadurch, dass sie zur Veränderung, zur Umstrukturierung oder gar zum Zerstören von Bestehendem anrege, bedrohlich wirke.
Hier wird deutlich, dass Systematisierung als Methode vieles, aber eben nicht alles kann. Dennoch sollte ihr Potenzial nicht unterschätzt werden.
Artikel von Raphaela Bruckdorfer