Taksim ist überall, Widerstand ist überall.
Im Mai beginnen Bulldozer Bäume im Gezi-Park niederzureißen, einem der größten Parks im Herzen Istanbuls. Umweltschützer*innen demonstrieren gegen das von Recep Tayyip Erdogan durchgepeitschte Bauprojekt. Nach dem Willen des Ministerpräsidenten sollen im Gezi-Park eine Kaserne aus osmanischer Zeit neu aufgebaut, ein Einkaufszentrum und eine Moschee errichtet werden. Und das, obwohl das Verwaltungsgericht in Istanbul einen einstweiligen Stopp der Bauarbeiten verfügte.
Am 31. Mai lässt Erdogan den Park durch die Polizei räumen. Die setzt Tränengas ein, die Gewalt eskaliert. Daraufhin explodiert die Zahl der Proteste: In Ankara, Izmir, Edirne, Bursa, Antakya und anderen Städten der Türkei gehen Millionen auf die Straße, um gegen das brutale Vorgehen der Polizei zu demonstrieren. „Tayyip istifa!“ – „Tayyip tritt zurück!“, rufen die Menschen. Doch Erdogan reagiert mit noch mehr Polizei und weiterem Tränengas.
Mitte Juni räumt die Polizei ein weiteres Mal den Gezi-Park und den ebenfalls besetzten Taksim-Platz. Wieder setzen sie Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse gegen die Demonstranten ein. Vier Privatsender, die live über die Räumung berichteten, werden zu hohen Geldstrafen verurteilt. Ärzt*innen, die verletzten Demonstrant*innen halfen, werden verhaftet, ebenso jene Anwälte, die gegen den Polizeieinsatz protestierten.
"Unsere Demokratie hat erneut auf dem Prüfstand gestanden und sie hat gesiegt", verkündet Erdogan nach der Räumung vor Mitgliedern seiner Regierungspartei.
Markus Schauta
Blumen gegen Wasserwerfer.
Jetzt sind sie zurück, die Capulcu, Plünderer, wie Erdogan die Demonstrant*innen nennt. Und diesmal haben sie rote Nelken mitgebracht. Zum ersten Mal seit der Räumung des Taksim-Platzes durch die Polizei, versammeln sich am 22. Juni Tausende am Platz. Die Kundgebung richtet sich gegen Polizeigewalt und will an die vier Todesopfer der vergangenen drei Wochen erinnern. „Taksim ist überall, Widerstand ist überall“, skandieren sie und werfen die Blumen in die Luft.
Nach der letzten Räumung sperrten die Behörden den Gezi-Park für Besucher*innen. Doch die Demonstrant*innen haben sich rasch neu organisiert. Täglich treffen sie sich in anderen Parks Istanbuls. In offenen Foren diskutieren sie, ersinnen neue Wege des Protestes und planen Kundgebungen. Die Protestbewegung ist basisdemokratisch und transparent organisiert, ohne Führungspersonen. Parteien, einzelne Politiker*innen und Gewerkschaften haben sich zwar den Protesten angeschlossen, übernehmen aber keine Führungsrolle.
Dem gegenüber steht der autoritäre Führungsstil Erdogans. Das Bauprojekt im Gezi-Park wurde zum Symbol für diesen Führungsstil. „Erdogan verkauft es als Zugeständnis an uns, dass er den einstweiligen Baustopp durch das Verwaltungsgericht abwarten wird. Das ist absurd, denn das muss er vom Gesetz her ja sowieso tun!“, empört sich Kemal, der zum ersten Mal an einer Demonstration teilnimmt.
So wie er geben sich große Teile der städtischen Jugend mit dem autoritären Regierungsstil nicht mehr zufrieden. Wie groß der Einfluss Erdogans Adalet ve Kalk?nma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ist, zeigt sich an den Türkischen Leitmedien, die wenig bis gar nicht über die Proteste berichten. „Die staatlichen Sender kannst du vergessen“, sagt Kemal, der eine Stunde mit Bus und U-Bahn unterwegs war, um auf den Taksim zu kommen. Die Bilder von Tränengaswolken, dem brutalen Vorgehen der Polizei und den verletzten Demonstrant*innen wurden über Social Media, Live-Stream und private Sender verbreitet.
Markus Schauta
Und wieder Tränengas.
Inzwischen haben sich mehrere zehntausend Menschen am Taksim-Platz versammelt. Sie stehen auf den Balkonen der Hotels, drängen sich unter die roten Sonnenschirme auf der Terrasse von Burger King. Am Rande des Gezi-Parks, der unmittelbar an den Taksim angrenzt, haben sich hunderte Polizisten mit Helmen und Schilden aufgestellt. Graue Wasserwerfer mit Schutzgittern vor den Windschutzscheiben und gepanzerte Polizeifahrzeuge stehen bereit.
„Der Taksim ist ein Symbol für Staatsterror“, erzählt der 23-jährige Omur. Zahlreiche Proteste, vor allem der Gewerkschaften und Linker, seien hier bereits niedergeknüppelt worden. „Das angrenzende Beyoglu ist ein Künstler-, Studenten- und Ausgehviertel.“ Dass Erdogan sein Bauvorhaben im am stärksten westlich orientierten, säkularen Teil Istanbuls nicht aufgeben will, sei auch als Symbol zu verstehen.
Eine Megaphon-Stimme fordert die Menschen auf, den Platz zu räumen. Dann marschiert die Polizei los. Demonstrant*innen stemmen sich gegen die Schilde, bewerfen die Polizisten mit roten Nelken. Wasserwerfer feuern in die Menge, spritzen auf die Balkone und zwischen die roten Schirme auf der Burger King Terrasse. Nach etwa 30 Minuten ist der Platz geräumt. Die Proteste verlagern sich in die Gassen rund um die Istklal-Straße südlich des Taksim-Platzes. Die Polizei feuert Gummigeschosse, geht mit Panzerwägen gegen Demonstrant*innen vor und setzt massiv Tränengas ein. Das sickert durch die Fenster und Türen der Wohnungen, Geschäfte und Bars. Das gesamte Viertel ist vom Polizeieinsatz betroffen.
Markus Schauta
Proteste gehen weiter.
Auch nach diesem Wochenende gehen die Proteste weiter. Die Menschen diskutieren jeden Abend in den Park-Foren, für kommendes Wochenende sind weitere Kundgebungen geplant. Ob sich die Parlamentsferien, die jedes Jahr Mitte Juli beginnen, auch heuer für Erdogan und seine AKP ausgehen werden, bleibt abzuwarten.
Markus Schauta ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams und Redakteur bei über.morgen.