The Take – Arbeiter*innen übernehmen ihre Fabrik.
Stillgelegte Fabriken, zersprungener Zement, rostende Maschinen. So zeigt sich Argentinien nach der schweren Wirtschaftskrise Anfang der 2000er Jahre. Doch in all der Tristesse gibt es auch Aufbruchsstimmung. Arbeiter*innen übernehmen geschlossene Fabriken und verwalten sie selbst. Sie nennen sie „Empresas Recuperadas“ – wiedererlangte Betriebe.
Als die beiden globalisierungskritischen Journalist*innen und Aktivist*innen Naomi Klein und Avi Lewis von dieser Bewegung erfuhren, beschlossenen sie, einen Film darüber zu drehen. Denn bei all der fundierten Kritik am neoliberalen Weltwirtschaftssystem – wie etwa im Buch ‚No Logo‘ von Naomi Klein – konnten die beiden kaum konkrete Alternativen nennen. Sie wollten herausfinden, ob die Bewegung der „Empresas Recuperadas“ so eine Alternative sein könnte.
Die Krise als Ausgangspunkt.
Noch zehn Jahre bevor dieser Film gedreht wurde, galt Argentinien als Wirtschaftswunder. Es war ein wirtschaftsliberales Vorzeigeland mit einem 1:1 Wechselkurs mit dem US-Dollar und einer wohlhabenden Bevölkerung. Verantwortlich für diese Errungenschaften war Carlos Menem, der 1989 an die Macht kam. Doch gegen Ende der 1990er Jahre zeigte sich, dass Argentinien in einer Illusion gelebt hat – mit hohem Preis. Die Anbindung an den Dollar hat zur Deindustrialisierung geführt, staatliche Unternehmen wurden zu Ramschpreisen verkauft, das Land war abhängig von ausländischem Kapital, die Reallöhne gingen deutlich zurück und die Arbeitslosigkeit stieg an.
Als der Internationale Währungsfonds (IWF) die Zahlung weiterer Hilfskredite verweigerte, kam es zum Crash. Die Regierung erklärte den Staatsbankrott. Wohlhabende schafften ihr Geld ins Ausland, während der Rest der Bevölkerung wegen gesperrter Bankkonten nicht an Geld kam. Argentinien erlebte einen nie zuvor gesehenen Anstieg der Armut – im Jahr 2002 waren 57 Prozent der Bevölkerung arm, 27 Prozent sogar extrem arm.
Die Betriebsübernahme als Ausweg.
Freddy Espinosa, Metallarbeiter und Familienvater, ist einer von jenen, die von der Krise überrascht wurden. Noch vor kurzem verdiente er als Metallarbeiter des Autoteilezulieferers Forja San Martin 1.200 US-Dollar – ein guter Lohn in Argentinien. Jetzt lebt seine Familie vom Einkommen seiner Frau. Täglich gilt es zu entscheiden die Kinder zu ernähren oder die Schulden zu bezahlen.
Trotz guter Ausbildung findet Freddy Espinosa keinen neuen Job als Metallarbeiter. Doch als ihm und seinen ehemaligen Kolleg*innen im Rahmen des Konkursverfahrens erlaubt wird, ihre alte Fabrik zu besichtigen, erkennen sie, dass einige Maschinen und Material aus dem Gebäude entfernt wurden. Aber sie sehen auch, dass sie hier immer noch arbeiten und produzieren könnten.
Der Beschluss von Freddy Espinosa und seinen Kolleg*innen, die Fabrik zu übernehmen, ist der Beginn eines harten Arbeitskampfs mit ungewissem Ausgang. Dieser Prozess der Übernahme ist gleichzeitig das Mantra der Bewegung der Empresas Recuperadas: Ocupar – Resistir – Producir. Besetzen – Durchhalten – Produzieren.
So wird auch die Forja San Martin besetzt, um zu verhindern, dass noch mehr Maschinen entwendet werden. Die Arbeiter*innen leben nun im rechtsfreien Raum, ständig droht die Zwangsräumung. Über das Schicksal von Freddy Espinosa und seinen Kolleg*innen entscheidet eine Richterin im Rahmen des Konkursverfahrens. Hier treffen die Interessen der Arbeiter*innen mit jenen der Gläubiger zusammen – quasi David gegen Goliath.
Für die Forja San Martin wäre hier Endstation gewesen, wenn nicht andere Empresas Recuperadas vor ihnen einen anderen Weg gefunden hätten: Die Enteignung des Betriebes. Denn die Regierung kann Besitz enteignen, wenn es im öffentlichen Interesse ist. In Anbetracht der massiven Krise des Landes wurde diese Klausel immer häufiger angewandt, um Betriebe an ihre Arbeiter*innen zu übergeben, denn jedeR Arbeitslose weniger ist wichtig. So wurde aus der Forja San Martin eine Kooperative.
Die Wiederaufnahme des Betriebs bedeutet für Freddy Espinosa und seine Kolleg*innen nicht nur die Rückkehr an den Arbeitsplatz. Dieser ist nun ein völlig anderer. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, es gibt keine Hierarchien mehr, alle verdienen den gleichen Lohn und die Motivation zu arbeiten ist viel höher.
Empresas Recuperadas als Alternative?
Dass nicht alles so rosig ist, wie es der Film teilweise vermittelt, klärt Nicola Sekler auf. Die Geographin und Politikwissenschafterin hat ihre Dissertation über die selbstverwalteten Betriebe in Argentinien geschrieben. In der Diskussion im Anschluss an den Film erklärt sie, dass die Schicksale der mittlerweile über 200 Empresas Recuperadas mit knapp 10.000 Arbeiter*innen sehr unterschiedlich sind. Denn die Betriebe kommen aus allen Sektoren und sind unterschiedlich groß. Die Übernahme verlief manchmal friedlich und manchmal hoch konfliktiv. Die Rechtssituation einiger Empresas ist bis heute nicht geklärt, manche sind noch immer von Räumungen bedroht. Die Gestaltung der Arbeit ist nicht in allen Betrieben anti-hierarchisch und auf Basis gleichen Lohns. Ungleich ist auch die wirtschaftliche Situation. Dafür sind Faktoren wie der Zustand der Maschinen bei der Übernahme und der Zugang zu Rohstoffen, Krediten und Absatzmärkten ausschlaggebend.
Einige Empresas Recuperadas können ihren Arbeiter*innen auch heute nur prekäre Verhältnisse bieten. Doch anderen ist es gelungen zu wachsen und zu gedeihen. Die Überschüsse landen dabei nicht in den Taschen von Manager*innen und Investor*innen, sondern werden im Betrieb investiert – in neue Maschinen, Arbeitsplätze und soziale Projekte. Die Empresas Recuperadas sind damit nicht die Alternative zum neoliberalen System. Aber ein weiteres gutes Beispiel dafür, dass es auch anders geht.
Der Autor, Manuel Melzer, hat Internationale Entwicklung und Volkswirtschaft studiert und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams. Seine Diplomarbeit schrieb er über die Empresas Recuperadas
Link.
Diplomarbeit „Empresas Recuperadas“