Timea Kasa - Eine Ethik des Verweilens
Es gibt nicht die Zeit. Sie ist etwas, das nur innerhalb eines räumlichen Vorgangs – in Form einer Bewegung oder eines Stillstands - erfahrbar wird. Bei der Arbeit oder in der Freizeit, schlafend oder wach, auf dem Fahrrad oder im Flugzeug - je nach Raum und Tätigkeit empfinden wir die Zeit anders. Und glauben wir, sie tatsächlich erfasst zu haben, ist der Moment der Erfahrung schon wieder vorbei. Die Zeitdimension ist im besonderen Maße grundlegend dafür, wie wir unsere Stellung in der Welt begreifen. Je nach dem, wie wir das Verhältnis von Raum und Zeit verstehen, urteilen und handeln wir. Das wirtschaftspolitische Diktat des endlosen Wachstums fußt zum einen auf der Ignoranz der (räumlich-) ökologischen Grenzen in Form endender Ressourcen und zum anderen auf der konstanten Beschleunigung und Verdichtung zeitlicher Prozesse.
Das richtige Zeit-Raum Verständnis ist daher voraussetzend für die Transformation hin zu einer nachhaltigen Lebensweise, die ein gutes Leben für alle ermöglicht. Während der räumliche Aspekt im Transformationsdiskurs um eine ökologisch und sozial nachhaltige Gesellschaft zahlreich thematisiert wird, bleibt der Aspekt der Zeit häufig vernachlässigt. „Die ökologische Krise, d.i. die gesellschaftliche Krise unseres Umgangs mit der Natur, ist dadurch mitverursacht, dass diese [Zeitdimension] bisher nur unzureichend beachtet wurde”, so die These des Tutzinger Projekts „Ökologie der Zeit“, das eine Einbeziehung der Zeitdimension bei der Betrachtung gesellschaftlicher Zusammenhänge fordert.
Was ist also das richtige Zeitmaß in einem Leben fernab der Wachstumslogik? Die Formen des individuellen und gesellschaftlichen Zeitumgangs sind vielfältig und resultieren häufig in der Betrachtung der Zeit innerhalb von Teilbereichen wie Mobilität oder Arbeit. Um dem „richtigen“ Zeitverständnis näher zu kommen, bedarf es jedoch einer kulturellen und systemischen Analyse unserer vorherrschenden Idee der Zeit, sodass sich anschließend dem Versuch einer Alternative gewidmet werden kann. Eine Ethik des Verweilens, so möchte ich argumentieren, kann als Grundlage für ein gutes Leben in Form einer solidarischen und suffizienten Lebensweise dienen. Auf den ersten Blick scheint dies dem gängigen Fortschrittsideal und einer angestrebten Gesellschaftstransformation entgegengesetzt. Ein neues Zeitverständnis kann jedoch zu einer Redefinition des Fortschrittsbegriffs außerhalb des neoliberalen Diskurses führen und damit zu einem neuen Verständnis von Lebensqualität.
Eine Bestandsaufnahme unseres Zeitverständnisses
Die heutige Epoche wird mit einer Selbstverständlichkeit als Zeitalter der Beschleunigung erachtet. Im Bildungswesen, in der Landwirtschaft, in der Kommunikation, im Verkehr oder in der Wirtschaft - die Geschwindigkeit diktiert sämtliche Lebensbereiche. Die heute erfahrene Beschleunigung ist unbestreitbar mit den technologischen Entwicklungen im Produktions- Verkehrs- und Kommunikationsbereich verbunden, die uns enorme Zeitersparnisse ermöglichen. Die positiven Konsequenzen sind wirtschaftlicher Wohlstand und gesellschaftlicher Fortschritt. Wir legen größere Distanzen in kürzerer Zeit zurück und der Zugewinn an Produktivität ermöglicht eine schnellere und damit billigere Produktion von Gütern, die dadurch für größere Teile der Gesellschaft erschwinglich werden. Neue technologische Kommunikationsformen ermöglichen uns, in kürzester Zeit mit Menschen weltweit in Kontakt zu bleiben. So kommt es, dass wir heute mehr konsumieren und kommunizieren als alle Generationen vor uns. Durch den Zugewinn an Güterwohlstand und durch Maßnahmen wie Arbeitszeitverkürzung, Wochenende, Urlaub und Ruhestand genießen wir heute eine Bandbreite an Optionen, wie wir unsere Zeit gestalten wollen.
Dennoch klagen die Menschen über das hohe Tempo der Lebensbereiche, sodass die erste gedankliche Annäherung an das vorherrschende Zeitverständnis in einer Paradoxie zu münden scheint. Trotz des enormen Zeitgewinns durch technologische Entwicklungen bleibt uns der Zeitwohlstand verwehrt.[1] Fragt man die Menschen nach ihrem Verhältnis zur Zeit, sind Hektik und Zeitnot oft vorherrschende Befunde. Das moderne Individuum gerät häufig an die Grenzen der Belastbarkeit. Burn-out und Depression aufgrund von Reizüberfluss, ständigem Erreichbar-Sein und Überarbeitung sind gängige Krankheitsphänomene. Sie scheinen der Preis zu sein, den wir für die neu gewonnene Freiheit zu zahlen haben.
Diese geschilderte Paradoxie ist es, die Hartmut Rosa mit dem Begriff der Beschleunigung beschreibt. Es ist das Gefühl je schneller sich das Leben vollzieht, umso weniger Zeit zu haben. Auf der Autofahrt ins Büro führen wir unsere erste Telefonkonferenz mit KollegInnen aus aller Welt, während wir das vom Bäcker zubereitete Sandwich essen. Ein Leben auf der Überholspur. Indem immer mehr in kürzerer Zeit geschieht, kommt es zu einer Zeitverdichtung; Flexibilität ist das neue Diktat des erfolgreichen Menschen. Als Konsequenz benötigen wir mehr Zeit für die Summe der verschiedenen Aktivitäten, als das wir an Zeit hinzugewinnen. Hinzu kommt ein Reboundeffekt: Wir tun Dinge umso häufiger, je schneller wir sie ausüben können. Beispielsweise ermöglichen uns moderne Formen der Mobilität weitere Wege in kürzerer Zeit zurückzulegen. Dennoch sparen wir im Gesamten keine Reisezeit ein, sondern reisen häufiger und legen weitere Distanzen zurück.
Das Ergebnis sind symptomatische Erscheinungen der Beschleunigungsgesellschaft in Form von empfundenem Qualitätsverlust sowie einer empfundenen Kurzlebigkeit der Dinge und Beziehungen. Der Warenwert von Gütern wird durch Modetrends definiert und für den Fall, dass diese nicht bereits nach kürzester Zeit beschädigt sind, wird das aktuelle Modell in der nächsten Saison durch ein Neues ersetzt.
Strukturelle und kulturelle Betrachtungen
Die Menschen haben das Gefühl, der Beschleunigung zum Opfer zu fallen. Mathias Binswange[2] bezeichnet den empfundenen Zeitmangel als das Treten in der „Zeitsparmühle“. Was jedoch führt die Menschen dazu, ihr Leben in allen Bereichen zu beschleunigen?
Das Gefühl der Beschleunigung empfanden schon Generationen vor uns. Der Zusammenhang zwischen der Beschleunigung und Entrhythmisierung der Lebens- und Arbeitswelt einerseits und den ökologischen Auswirkungen andererseits ist jedoch das Neue an dem Gefühl, die Welt beschleunige sich.[3] Die heutigen Zeitstrukturen sind das Ergebnis technologischer, geistesgeschichtlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen. Die Prinzipien der Optimierung und Effizienz sind tief in unserem Fortschrittsgedanken verankert. Der Motor dieses Fortschritts ist gleichzeitig der Grund für den aktuellen Zeitnotstand. Es ist die Fähigkeit des Menschen, sich größtenteils von den naturgegebenen Vorgaben zu emanzipieren. Jahreszeiten dominieren heute weder was wir Essen, noch welchen Arbeitsrhythmus wir haben. Selbst Wintersport im Sommer ist in den modernen Skihallen möglich. Die Abkopplung des Menschen von den Zeiten der Natur hat auch ihre Kehrseiten. Denn unsere Form des technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts basiert auf einem Ressourcenverbrauch, der dem planetaren Ökosystem nicht die notwendige Regenerationszeit gewährt.
Die Vertaktung des Lebens
Um möglichst viel erleben zu können, musste der Mensch die Zeit kontrollieren. Durch die Erfindung der Uhr wurde die Zeit objektiv erfassbar. In Kombination mit den technologischen Entwicklungen ermöglichte dies, die Vertaktung der Lebensbereiche und die Nivellierung von Abläufen, seien es Produktions-, Jahres- oder Tagesabläufe.[4] Mitte des 19ten Jahrhunderts kam es zu einer „Totalökonomisierung der Lebenswelt“. Sämtliche Lebenszeit wurde zu Arbeitszeit gemacht - zwölf bis sechzehn Stundentage wurden zur Regel. Durch das Aufbegehren der arbeitenden Bevölkerung wurden diese Entwicklungen zwar schrittweise rückgängig gemacht,[5] dennoch entspricht unsere heutige Arbeitszeit nicht dem, was durch Technologien an Produktivität hinzugewonnen wurde.
An die Stelle der Naturrhythmen trat die individuelle Entscheidung für die alltägliche Lebensführung. Im Zuge der Aufklärung wurde das weltliche Leben zur einzig bedeutenden Zeitreferenz. Möglichst intensiv soll es sein. „Für den spätmittelalterlichen-frühneuzeitlichen Menschen ist so die Lebenszeit und die Weltzeit, also das im individuellen Leben Erreichbare und das in der objektiven Welt Mögliche, immer mehr auseinandergetreten“.[6] Durch den Produktionsfortschritt wurde Zeit immer wertvoller und gleichzeitig knapper. Dadurch sind wir angetrieben, unsere zur Verfügung stehende Zeit möglichst sinnvoll zu nutzen.[7] Die Fülle an Optionen für die Lebensgestaltung scheint unendlich, was nicht nur zu einer Beschleunigung sondern auch Flexibilisierung des Lebens führt.
Die Beschleunigungs- und Flexibilisierungstendenzen der Lebenswelt sind im Kapitalismus verankert. Die Beschleunigung ist grundlegend, um dem inhärenten Wachstumsdrang gerecht zu werden. Unser Wirtschaftssystem basiert auf der Verrechnung von Geld in Uhrzeit. Die Aussage Benjamin Franklins „Zeit ist Geld“ aus dem Jahr 1748 beschreibt so den Kern des kapitalistischen Systems und ist bis heute der Leitspruch der Arbeitswelt. Implizit bedeutet dies, dass je schneller wir Arbeiten desto mehr Geld verdienen wir und umso mehr Optionen haben wir für unsere Lebensgestaltung. Indem das Geld vom Tauschmittel zum Zweck in sich selbst wurde, erhielt es einen maßlosen Charakter. Maßloses Geld bedarf daher maßloser Zeit, wodurch der Wachstumsdrang in der vorherrschenden Geldlogik institutionalisiert ist.[8]
Das rechte Zeitmaß für ein gutes Leben
Es ist nicht die Zeit, die das Leben bestimmt, sondern unsere Vorstellungen von ihr. Ein richtiges Zeitverständnis ist daher die Bedingung für die Möglichkeit eines guten Lebens. Dies bringt mich zum zweiten Teil meiner Überlegungen: der normativ-ethischen Frage nach einem passenden Umgang mit der Zeit. Für ein gesundes Zeitverständnis brauchen wir neue kulturelle Praktiken. Die Politik kann durch gewisse Maßnahmen die richtigen Rahmenbedingungen bereitstellen. Aber auch die Philosophie kann für den gesellschaftlichen und individuellen Wandlungsprozeß das nötige Rahmenwissen bereitstellen.
Nun gut, doch was ist das gute Leben? Es gibt nicht das gute Leben. Es ist etwas, das zu jeder Zeit neu definiert werden muss. Dennoch ist es möglich eine Richtung für den Diskurs über das gute Leben aufzuzeigen. Für Hartmut Rosa[9] erfahren wir das gute Leben überall dort, wo wir Resonanzen erfahren. Dort, wo wir das Gefühl haben, dass sich zwischen uns und den Dingen, uns und der Arbeit oder uns und anderen Menschen eine Resonanzerfahrung, ein Antwortverhältnis, ergibt. Dem entgegengesetzt sind Entfremdungserfahrungen, bei welchen der Mensch das Gefühl hat, mit seiner Welt nicht zu interagieren. Entfremdung erfahren wir, wenn unsere Erfahrungen nicht über kausale oder instrumentelle Wechselverhältnisse hinaus gehen.[10]
Resonanz als Tiefe und Bedeutung bedarf der Zeit. Ein ständiger Wechsel von Modetrends entfremdet, genau wie die fehlende Zeit für Patienten im Gesundheitsbereich oder das oberflächliche Überfliegen von möglichst vielen digitalen Nachrichten in möglichst kurzer Zeit. Ein anderes Beispiel ist die Arbeit im Pflegebereich, die von vielen Menschen als erfüllend und sinnstiftend beschrieben wird. In den jetzigen Strukturen gibt es jedoch kaum genügend Zeit für die Patientinnen und Patienten; die Arbeitsstrukturen zwingen zu einer regelrechten Abfertigung. Im persönlichen Bereich äußert sich dies beispielswiese durch die Informationsflut. Texte werden nur noch überflogen und „Speedreading“ gehört zum notwendigen Repertoire eines jeden Nachrichteninformierten. Dadurch bleiben uns die Menschen, Gegenstände und die Welt fremd und oberflächlich. Optimierung, Effizienz und Flexibilität werden zu den Leitbildern unserer Gesellschaft und resultieren letztendlich in den von Rosa beschriebenen Entfremdungstendenzen.
Entschleunigung als rechtes Gegenmaß?
Häufig wird im Zeitdiskurs der Beschleunigung die Entschleunigung als richtiges Gegenmaß entgegengesetzt. Entschleunigung meint einen Zustand, bei dem das Vergehen der Zeit als langsamer empfunden wird und in Fülle vorhandenen zu sein scheint.[11] Doch ist Entschleunigung, wie von vieler Seite gefordert, die richtige Antwort? Bei näherem Betrachten dienen Ent- und Beschleunigung dazu, die Zeit zu beherrschen[12] und sind dem Rhythmischen und den natürlichen Eigenzeiten entgegengesetzt. Der Exzessive Gebrauch von Konservierungsstoffen, die große Anzahle an Forschungsprojekten, die das Geheimnis des Alterns entdecken und aufhalten wollen, oder die Fülle an Produkten der Kosmetikindustrie dienen als Exempel des Entschleunigungskampfes gegen die Zeit.
Die Entschleunigung bezweckt also das Haltbarmachen dessen, was vergeht, und ist damit auf die Vergangenheit ausgerichtet; sie versucht nämlich dieser zu entgehen. Dem entgegengesetzt ist die Beschleunigung auf die Zukunft ausgerichtet. Sie versucht das, was vor uns liegt, schneller ins Hier und Jetzt zu holen. Resonanzerfahrungen geschehen jedoch weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, sondern im Hier und Jetzt.
Es scheint, als diene die Entschleunigung dem Wachstumsbestreben. Dem entsprechend ist die Forderungen nach Freizeit Teil vieler alternativer Lebenskonzepte und die Work-Life-Balance ist in aller Munde. Doch der Optimierungszwang kann auch die Freizeit dominieren, sodass sich der neoliberale Fortschrittsgedanke im Archetypus des Selbstoptimierers manifestiert. Nach dem Motto: Sind wir erholter, können wir mehr bei der Arbeit leisten. Die Frage nach dem guten Leben bleibt dabei meist außer Acht. Das Ziel ist längere Haltbarkeit von Produkten, jüngeres Aussehen für den Erfolg und die Wertschätzung. Der Kampf gegen die Zeit durch Entschleunigung dient damit dem längeren Beschleunigen. Deshalb fordert Hartmut Rosa zwischen einem systematisch funktionalen, punktuellen Entschleunigen und einem genuinen Entschleunigen des Lebens zu unterscheiden.[13]
Aus dem Wunschszenario einer Welt ohne Hektik folgt aber nicht zwangsläufig, dass den Errungenschaften der industriellen und digitalen Revolution der Rücken zugekehrt werden muss. Unter anderen strukturellen Begebenheiten könnten diese nämlich zu einem Zugewinn an zeitlichem und wirtschaftlichem Wohlstand beitragen. So wie technologische Entwicklungen für den Gewinn grüner Energie bedeutend sind für eine Transformation hin zu einer postfossilen Gesellschaft, so bedarf es einer weiteren kulturellen Komponente, wie beispielsweise der Suffizienz, um die Transformation auf gesellschaftlicher Ebene gelingen zu lassen.
Verweilen statt Entschleunigen
Suffizienz wird unter dem heutigen Zeit-Raum Verhältnis von KritikerInnen wenn nicht mit Rückschritt dann häufig mit Stillstand gleichgesetzt. Suffizienz impliziert, dass wir für gesellschaftlichen Wohlstand nicht weiter wachsen müssen. Es zeichnet sich das Bild, dass Material für ein gutes Leben bereits vorhanden ist; es muss nur umgesetzt werden. Im Gegensatz zu der auf der Vergangenheit und Zukunft ausgerichteten Be- und Entschleunigung ist Suffizienz auf das Hier und Jetzt konzentriert. Sie zielt auf Gleichgewicht – „Ausgewogenheit von Aufbau und Abbau“- und dynamischer Stabilität. So wird auch in einem Zustand des Gleichgewichts weiterhin Entwicklung und Zivilisationsfortschritt möglich sein.[14]
Das Verweilen kann dabei als Zeithorizont des Gleichgewichts dienen. Im Gegensatz zur Entschleunigung erlaubt dies nämlich das rythmische und dynamisch Stabile. Es beschreibt den Moment des Übergangs zwischen Schnell und Langsam. Die Bedingung für die Möglichkeit eines guten Lebens ist eine entschleunigte Gesellschaft, die sich abwendet vom Werden hin zum Sein und sich die Möglichkeit zur Langeweile zugesteht. Laut dem Philosophen Byung Chul Han enthüllen die Dinge ihre Schönheit erst im kontemplativen Verweilen. Die Langeweile berge kreatives und schöpferisches Potential in sich. Erst das Innehalten ermöglicht die Reflektion des Bestehenden und einen Blick in die Zukunft. Dadurch können die verschwommenen Grenzen durch das „immer, mehr, jetzt“ wieder hergestellt werden und ein Raum für Resonanzen entstehen.
Zeitpolitik und Slowmovements als Schritte in die richtige Zeit
Auf den ersten Blick scheint dies dem Fortschrittsideal und einer angestrebten Gesellschaftstransformation entgegengesetzt. Es bedarf demnach einer Redefinition des Fortschrittbegriffs und damit zu einem neuen Verständnis von Lebensqualität.
Ein neuer Fortschrittsbegriff sollte am Prinzip des Zeitwohlstands orientiert sein. Ein Fortschritt der eine Lebenskultur und Wohlbefinden ermöglicht. Jürgen Rinderspracher von der Gesellschaft für Zeitpolitik stellt Maßstäbe für den anzustrebenden Zeitwohlstand dar. Zeitwohlstand meint “gesellschaftliche Zeitstrukturen, die den Menschen zu mehr als zur bloßen Regeneration der Arbeitsfähigkeit verhelfen”. Das gute Leben in seinem Sinne heißt maßvollen und ökologisch vertretbaren Güterkonsum, ein angemessenes Niveau an Zeitkonsum in Form von Nicht-Arbeit und ein hohes Maß an Selbstbestimmung über die eigene Zeit.[15]
Um dieses Ziel zu erreichen, muss auf verschiedenen Ebenen angesetzt werden. Von politischer Seite fordert dies Rahmenbedingungen für eine mögliche Arbeitszeitverkürzung, Lohnausgleich und Einkommensverteilung, sodass mehr Zeit für Freunde, Familie und persönliche Entfaltung aufgebracht werden kann. Auf individueller Ebene müssen wir rhythmischer leben und genügend Zeit des Ausgleichs einplanen. Dies bedeutet auch, den Flexibilisierungsanforderungen Widerstand zu leisten und unsere zeitlichen Grenzen zu setzen. Auch hier muss die Politik die Rahmenbedingungen schaffen, damit es möglich wird, dem pausenlosen Erreichbar-sein-müssen Schranken zu setzen.
Slow Movements bieten erste Umsetzungsversuche eines solchen alternativen Zeitverständnisses. Es handelt sich um Initiativen, die versuchen, ein neues Zeitverständnis und eine Entschleunigung des Lebens Wirklichkeit werden zu lassen. Das Leitprinzip der Langsamkeit dient als Visionsrahmen für eine Vielzahl an Bewegungen, wie Slow Food, Slow Design, Slow Cities oder Slow Money. Die Leitidee ist, sich des Überflusses durch die Langsamkeit zu entledigen und an der Vision eines bewussten und genügsamen Lebens zu orientieren. Erste Slow Cities versuchen, den angestrebten Wandel auf kommunaler Ebene zu institutionalisieren.
Inspiriert von der Slow-Food-Bewegung gründete sich Ende der neunziger Jahre in Italien die Vereinigung Lebenswerter Städte. Das Hauptziel ist, durch die Etablierung eines Gütesiegels für Lebensqualität die Kultur des guten Lebens zu verbreiten. In ihrem Manifest legt die Vereinigung die Hauptkriterien für einen Beitritt dar: Zugehörige Städte, die in ihrer Größe 500.000 EinwohnerInnen nicht übersteigen dürfen, setzen auf alternative und regenerative Energie sowie innovative Müllkonzepte, ökologische Landwirtschaft und pflegen und erhalten die landschaftlich regionale Vielfalt sowie das historische Stadtbild. Sie weisen eine bürgernahe städtische Infrastruktur mit Naherholungsgebieten und Grünanlagen auf und stärken regionale Wirtschaftskreisläufe. Gastfreundschaft in Form von Weltoffenheit und Herzlichkeit sowie die Bewusstseinsförderung der Jugend für ein gutes Leben sind weitere Merkmale. Hartberg, die zweite österreichische Stadt, die das Siegel der Lebenswerten Stadt verliehen bekam, beschreibt das Resultat der Verlangsamung in “Aufmerksamkeit, Ruhe, Bewusstsein, nachhaltigem Fortschritt und Verantwortung“.
Während andere Stadtentwicklungsprojekte, wie beispielsweise das Smart City Wien Projekt, ein gutes Leben für alle EinwohnerInnen anstreben, stoßen sie doch häufig an kapitalismusinheränte Grenzen. So setze das Projekt in Wien auf ‚soziale Gerechtigkeit’ durch Innovation und Technologie und damit hauptsächlich auf den Nachhaltigkeitsstrang der Effizienz. Zwar gibt es keinen expliziten wachstumskritischen Punkt in dem Manifest der Lebenswerten Städte, dennoch illustrieren sie, wie ausgehend von einem anderen Zeitverständnis Ruhe, Bewusstsein und Genügsamkeit zum Kern von Lebensqualität werden können.
Der Wunsch nach einem neuen Umgang mit der Zeit ist vorhanden und der Ausstieg aus der Zeitspartretmühle ist möglich. Insbesondere vor den ökologisch-sozialen Konsequenzen des Beschleunigungsparadigmas und der Entfremdung von den Zeiten der Natur ist eine Form der Entschleunigung, die dem Verweilen nahe kommt, angebracht. Wir müssen es nur erkennen, fordern und umsetzen. Am Ende ist es die Zeit, die zeigen wird, ob dies gang und gäbe wird.
[1] Rinderspracher, Jürgen Zeitwohlstand –?Kriterien für einen anderen Maßstab von Lebensqualität. IN: WISO Nr. 1/2012, S. 11-26, S.1.
[2] Binswanger, Mathias 2012: Die Tretmühle des Glücks. In Fischer, Peter, Wiegandt, Klaus (Hrsg.): Dimensionen der Zeit. Die Entschleunigung unseres Lebens. S227-248, S.236
[3] Tutzinger Projekt „Ökologie der Zeit: Ökologie der Zeit“ Zur Einführung. Online: http://www.make-sense.org/fileadmin/Daten-MS/projekte/Einfuehrung_Zeitoekologie.pdf
[4] Schneider, Manuel: Langsamer - Näher - Weniger - Schöner. Wege aus der Wohlstandsfalle, in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft, S. 241-249, S. 3
[5] Riderspracher 2012: 3.
[6] Reheis, Fritz 2012 Entschleunigung. Befreiung vom Turbokapitalismus. In: Fischer, Peter, Wiegandt, Klaus (Hrsg.): Dimensionen der Zeit. Die Entschleunigung unseres Lebens. S213-226, S.217.
[7] Rinderspracher 2012: 5.
[8] Reheis 2012: 218.
[9] Rosa, Hartmut 2012: Was heißt und zu welchem Ende sollen wir entschleunigen. In Fischer, Peter, Wiegandt, Klaus (Hrsg.): Dimensionen der Zeit. Die Entschleunigung unseres Lebens. S.59.
[10] Ibid. 66
[11]Ibid. 42
[12] Heitkötter, Martina & Schneider, Manuel 2004 Zeitpolitisches Glossar Grundbegriffe – Felder – Instrumente – Strategien.
[13] Rosa 2012: 65
[14] Rammler, Stephan 2012: „Wer wenn nicht wir“. In: Fischer, Peter, Wiegandt, Klaus (Hrsg.): Dimensionen der Zeit. Die Entschleunigung unseres Lebens. S. 291-210, S. 298.
[15] Heitkötter; Schneider 2004: 5