„Über die Jahre“– ein Film übers Leben und Arbeiten.

Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion GmbH
Seit 1850.
Schneeregen im Morgengrauen. Karg und kalt präsentiert sich die Landschaft bei Schrems im nördlichen Waldviertel. Das Fabrikgelände liegt trostlos und verlassen inmitten der Unwirtlichkeit. Eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter treten wortlos mit der Stechuhr ihr Tagewerk an. Erste Interviews finden zwischen Garnspulen, Tuchstoff und Webstühlen statt, im Hintergrund laut ratternd Maschinen, teils aus dem 19. Jahrhundert. Die Zeit scheint hier stehen geblieben, in musealer Düsternis. Die Anderlfabrik gibt es seit 1850.
Was hier seine Arbeit sei und wie er einen typischen Arbeitstag beschreiben würde, dringt Geyrhalters Stimme durch den Lärm. „Garn einführen, austragen.“ Was noch? „Stuhl putzen.“ Noch etwas? „Schnee scheren.“ Die Menschen hier machen nicht viele Worte, sie tun einfach ihre Arbeit. Nur mit Geduld, Ausdauer und Einfühlungsvermögen wird Geyrhalter sie zum Erzählen bringen. Über ihr Leben, über zehn Jahre, über drei Stunden Film.
Und nach der Arbeit? „Mit dem Hund spazieren, fernsehen, Schnee scheren.“ Um 14 Uhr haben die wenigen Verbliebenen der einst 300 Mitarbeiter*innen aus.
Preis statt Qualität.
Der Preis sei heute wichtiger als die Qualität, sagt eine Büroangestellte. „Nachfolger haben wir keinen“, erklärt sie mit Blick auf den über 70-jährigen Firmenbesitzer. „Der Chef ist auch nicht mehr der Jüngste.“ Die Maschinen seien veraltet, aber es ließe sich aus der Firma noch etwas machen, gibt sie die Hoffnung nicht auf.
Der Buchhalter erzählt mit verhaltener, stockender Stimme, die Konkurrenz würde die Preise immer mehr drücken, man warte auf Aufträge. Was, wenn die nicht kommen und die Firma zusperren muss? „Ich bin ruhig“, antwortet er. „Und gutmütig.“ Am liebsten sei er alleine. „In einem großen Büro wäre ich nicht richtig am Platz.“
Eine Mitarbeiterin verpackt Stoffwindeln in Zellophanpapier. Das Etikett müsse in der Mitte sein, erklärt sie. Durch die Pampers seien die Stoffwindeln zurückgegangen. Im Gegensatz zum Wegwerfprodukt seien Stoffwindeln für zwei Generationen verwendbar gewesen. Aber halt mit mehr Zeitaufwand; waschen, bügeln.
Er sei über das Arbeitsamt zur Firma Anderl gekommen, berichtet ein Mann, der seinen Arbeitsplatz mit „Färberei, Rauen, Maschine reparieren“ beschreibt. Was anfällt, werde gemacht. Seit er sich bei einem Freizeitunfall mit der Kreissäge die Finger abgeschnitten habe, sei er schwer vermittelbar. Viele Absagen habe er erhalten: Das Geld sei den meisten wichtiger als der Mensch. Auch hier verdiene er wenig, um 14 Uhr gehe er heim. Sobald er den Schlüssel umdreht, denke er nicht mehr an die Arbeit: „Das ist das Wichtigste, was ich einem jeden raten kann.“
Konkurs.
Der Konkurs war unausweichlich. Nach 154 Jahren schloss die Anderlfabrik ihre Tore für immer. Beim Zusperren sei die Stimmung „am Nullpunkt“ gewesen, erzählt die ehemalige Büroangestellte beim nächsten Drehtermin. Ganz überraschend sei das Ende aber nicht gekommen, man habe es jahrelang vorausgesehen. Der Chef sei „ziemlich zammgangen“, nach rund vier Jahrzehnten im Betrieb. Sie selber habe es besser verkraftet. Was sie jetzt mache? Nach 15 Jahren bei Anderl sei sie nun mehr daheim. Zwar müsse die Familie jetzt mehr aufs Geld schauen und zusammenhalten, sie selbst hätte dafür öfter Zeit für Hobbies wie Kochen, Radfahren, Spazierengehen. Und wie geht es weiter? „Irgendwie geht´s sicher weiter, man darf den Kopf nicht hängen lassen.“
Geyrhalter interviewt die Frau des Chefs. Sie wollte „keinen Konkursler“ haben, bemerkt sie unumwunden. Ihr Mann, der ehemalige Chef, sitzt daneben. Er bemüht sich um Richtigstellung: „Ich persönlich bin ja nicht in Konkurs, sondern die Firma.“ Als Frau mit „Naturverstand“ sehe sie da keinen Unterschied, erwidert die Gattin. Ihr Mann habe immer gehofft, dass er reich wird wie „ein Kanadier“. Automobil sei eben eine bessere Branche als Textil, verteidigt sich der Gatte. Nein, er selbst sei nicht böse wegen dem Konkurs, ist nun mal so.
Immer was zu tun.
Die Doku macht Halt beim früheren Buchhalter. 35 Jahre sei er bei der Firma Anderl gewesen, seit 1970, davon 28 als Buchhalter, die letzten im Rohwarenlager. Nachdem sie die Buchhaltung ausgelagert hatten. Nein, die Arbeit gehe ihm nicht ab, daheim habe er auch viel zu tun. Er pflegt seine 80-jährige Mutter und kocht für sie, trägt händisch die rund 13.000 Titel seiner 800 CDs in ein Register ein. Manchmal notiert er auch die Texte der Schlager oder schreibt Gedichte. Jahre später bekommt er einen von der Gemeinde ausrangierten Computer. Das Titel-Ordnen geht – nunmehr elektronisch – von vorne los.
Über die Jahre zieht er los in den Wald, um Heizmaterial zu beschaffen. Er dichtet: „Ich hab nen Garten vor dem Haus, da tob ich mich so richtig aus. Ich fahr auch in den Wald hinaus, und grab dort Wurzelstöcke aus.“ Fünf bis zehn Stunden brauche er pro Wurzelstock und drei bis sieben zum Zerkleinern des Holzes. Graben, hacken, schlagen – schwere körperliche Arbeit, unbezahlt, aber notwendig, um im Winter über die Runden zu kommen. Das Geld ist nach dem Anderl-Konkurs nicht mehr geworden. Aber das Wichtigste im Leben sei „die Gesundheit und dass es der Mutter gut geht.“
Die Büroangestellte probiert es zwischendurch mit Direktvertrieb. Auf einer Tupperware-Party präsentiert sie verkaufstüchtig Frauen Messer aus Edelstahl, jetzt zum Sonderpreis. Erst durch Tupper sei sie kommunikativ geworden, streicht sie die berufliche Veränderung positiv hervor.
Über die Jahre begegnen wir ihr in wechselnden Jobs, unter anderem im Büro eines Schotterwerks und Pflastersteinproduzenten. Zufällig arbeitet im dortigen Steinbruch ein ehemaliger Anderl-Kollege. „Hundert zu Eins!“ sei die Arbeit hier verglichen mit Anderl, sagt er. Im Steinbruch herrsche ein viel besseres Arbeitsklima. Man könne Pausen machen, mit den Kollegen reden, im Freien arbeiten. Presslufthammer, Helm, Gehörschutz sind seine täglichen Begleiter, wenn er Löcher zum Sprengen bohrt.
Eine andere ehemalige Mitarbeiterin hat sich ins Häusliche zurückgezogen und kümmert sich nun um zwei Integrationskinder. Froh sei sie über die Kinder, froh von Anderl weg zu sein, unfroh nur darüber, dass ihr Gatte so früh verstorben sei. Schicksal. Später sieht man sie mit einem nahen Verwandten beim Aluminiumcontainer. Die herausgefischten Dosen verkaufen sie an einen Eisenhändler. 40 bis 50 Euro bekommen sie für eine Lieferung. Am Ende des Films werden sie Schwammerln für ein Gasthaus sammeln, um ihr Einkommen aufzubessern.
„Kommt immer alles zamm“.
Zwischendurch macht ein Hochwasser zu schaffen, das ganze Haus ist überflutet. „Kommt immer alles zamm“, kommentiert die Frau. Arbeitslosigkeit, Hochwasser, die Firmen wollen nur billige Arbeitskräfte, vom AMS bezahlt. Sonst gibt es sowieso keine Jobs im Waldviertel. Ein Feuerwehrfest bietet den ehemaligen Anderl-Kolleg*innen Zerstreuung und Gelegenheit bei der Organisation mitzuhelfen. Am Schluss wird ausgelassen auf Biertischen getanzt.
Über die Jahre ist der ehemalige Chef gestorben. Der Buchhalter dichtet: „Er starb nach einem Schlaganfall, und die Firma war einmal.“
Mit Musik und einer tanzenden Frauengruppe geht die preisgekrönte Doku zu Ende. Aufbruchstimmung, Gemeinsames und Optimismus liegen in der Luft.
Der Abspann blendet die Namen der Protagonist*innen ein. Sie haben nicht geschauspielert, sondern waren einfach sie selbst.
Die Autorin, Karina Böhm, hat Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Wien und São Paulo studiert. Sie ist Chefin vom Dienst und Mitglied des GBW-Redaktionsteams.
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Über die Jahre