Urbanes Utopia. Linkes Rechthaben für alle.
Zum Auftakt der Veranstaltungsreihe „Global Campus“ lud die Südwind Agentur an den Yppenplatz. Unter dem Titel „Stadtutopien und das Recht auf Stadt“ stand im Zentrum: In was für einer Stadt wollen wir leben? Es diskutierten Christoph Laimer, Chefredakteur der „dérive – Zeitschrift für Stadtforschung“, Johannes Kellner vom Verein „Lokale Agenda 21“ und Raphael Kiczka, aktiv im „Recht auf Stadt Netzwerk Wien“.
Die „Recht auf Stadt-Bewegung“.
Der Begriff „Recht auf Stadt“ (RAS) geht auf einen Essay des französischen Philosophen Henri Lefebvre aus dem Jahr 1968 zurück, beginnt Laimer seinen Exkurs über den theoretischen Hintergrund der Veranstaltung. Den Kontext bot damals die gesellschaftliche Umbruchphase: die Studierendenproteste, das sich abzeichnende Ende des Fordismus sowie die in Frankreich vorangetriebene Verdrängung der zu einem großen Teil migrantischen Arbeiterschaft aus den urbanen Zentren in die berüchtigten Banlieues. Lefebvre verstand dies als Ablöseprozesse der Industriegesellschaft durch eine urbane. Die Stadt stellte er sich als neuen Dreh- und Angelpunkt vor. Er sprach von der „urbanen Revolution“, wenn er das Ausgreifen städtischer Funktionen (wie dem Bedürfnis nach Freizeit, Mobilität oder Ernährung) auf das Umland thematisierte. Trotzdem verfechte der RAS-Ansatz weder ein revolutionäres Gesamtkonzept, noch eine ausdefinierte Reformstrategie, betont Laimer. Vielmehr ginge es um eine „revolutionäre Praxis“: um „autogestion“ (Selbstverwaltung) und darum, die eigenen Interessen selbst in die Hand zu nehmen. Da Lefebvre Urbanität als neues Gesellschaftsprinzip verstand, gelte das RAS prinzipiell für alle Menschen, insbesondere jedoch für marginalisierte Gruppen.
Gerade in der letzten Dekade, so Laimer, lebe das Konzept wieder verstärkt auf. In den USA entstand ab 2005 die „Right to the City Alliance“, in Europa ist Hamburg ein wichtiges Zentrum der Bewegung. Zuletzt überrollte die Welle der Neugründungen auch Lateinamerika, Afrika und Israel. Trotz der internationalen Präsenz ist die Bewegung ohne einheitliche Dachorganisation und entsprechend heterogen.
Von Rio bis zum Alsergrund.
Johannes Kellner führt die Hörer*innen weg von der französischen Theorie, hin zur Wiener Praxis. Er arbeitet im Verein „Lokale Agenda 21 in Wien zur Förderung von Bürgerbeteiligungsprozessen“ (LA21). Geboren wurde diese Initiative 1992 beim UNO-Umweltgipfel in Rio de Janeiro. 180 Staaten, darunter Österreich, unterzeichneten damals ein Aktionsprogramm (kurz: die „Agenda 21“) zur Sicherstellung nachhaltiger Entwicklung im 21. Jahrhundert. 1996 verpflichtete Bürgermeister Häupl die Stadt Wien zur Umsetzung dieser Agenda auf lokaler Ebene. Zwei Jahre später startete am Alsergrund (9. Bezirk) ein Pilotprojekt und 2002 gründete sich jener Verein, in dem Kellner heute arbeitet. Jeder Bezirk kann freiwillig beitreten, was bislang zehn auch taten. Thematisch sind die Projekte breit gestreut. Vom Bauernmarkt über Gemeinschaftsgärten zur Grätzl-Wiederbelebung ist alles dabei. Die Josefstadt soll zum Fairtrade-Bezirk werden und außerdem stehen auf der Wunschliste: Tauschkreise, Lebensmittelkooperativen, interkulturelle Begegnungsräume, Kunstforen und vieles mehr (siehe Link).
Obwohl dies alles wenig mit dem RAS-Konzept zu tun habe, gibt es Anknüpfungspunkte. Schließlich gehe es um die Frage: „Leute, was möchtet ihr tun?“, meint Kellner. Da jede*r Projektvorschläge einbringen könne, sei fast von einer Art Graswurzelbewegung zu sprechen. Als Ziel nennt Kellner: „Politik etwas anders zu machen, als sie üblicherweise läuft.“ Letztlich entscheide gleichwohl die Bezirksverwaltung, ob ein Projekt umgesetzt werde, oder nicht.
Die Stadt der Commoners.
Ein ähnliches Programm verfolgt auch das RAS-Netzwerk Wien. Obwohl die Distanz zwischen LA21 und der RAS-Bewegung aus theoretischer Sicht unüberbrückbar scheint, möchte Raphael Kiczka Berührungsängste abbauen.
Das RAS-Netzwerk Wien gibt es seit etwa einem Jahr. Es verstehe sich hauptsächlich als Plattform für Wissensaustausch und Organisatorisches. Thematisch dreht sich dieser Austausch um Leerstände, Mietrecht, Zwangsräumungen, Gentrifizierung und Kommerzialisierung öffentlichen Raums. Im Zentrum steht dabei die Frage: Wem gehört die Stadt? Dies sei ohne Kritik bestehender Machtverhältnisse kaum sinnvoll zu verhandeln, worin ein entscheidender Unterschied zur LA21 bestehe. Was das bedeutet, zeigt Kiczka am Beispiel des Begriffs der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit steht im Zentrum der Rio-Charta. Was kann dies jedoch im Rahmen eines Wirtschaftssystems mit innewohnendem Zwang zur Vermehrung überhaupt bedeuten? „Städte werden immer mehr zu Unternehmen“, meint Kiczka. Tendenzen in Richtung Privatisierung, Schließung konsumfreier Räume oder steigende Überwachung seien kein Zufall. „Nachhaltigkeit verdeckt diese Logik und schafft eine Illusion, die gar nicht einlösbar ist.“
Als Zweites kritisiert Kiczka das idealisierte Bild des „runden Tischs“. Die LA21 lade Menschen ein, sich einzubringen: Gut so. Trotzdem seien politische Akteur*innen niemals neutral und die Vorstellung absurd, mit Bürgermeister Häupl oder dem Wirtschaftskammer-Chef auf Augenhöhe diskutieren zu können. Welche Projekte letztlich verwirklicht würden, entscheide eine wenig neutrale Auswahllogik. Insofern sieht Kiczka die Gefahr, dass Bürger*innenbeteiligung als Legitimationsstrategie der Mächtigen zweckentfremdet werden könnte. Insbesondere die Stadt Wien sei im „Auflaufen lassen“ unliebsamer Ideen geübt.
Seine persönliche Stadtutopie beschreibt der langjährige Aktivist als „Stadt der Commoners“. Eine Stadt, die Gemeingut derer ist, die sie bewohnen. Selbstverwaltung sieht er dabei sowohl als Prinzip wie auch als Weg zu dieser Utopie.
Von Nichts kommt Nichts.
Es scheint nahezu paradox, wie sich an diesem Abend Gegensätze anziehen. Johannes Kellner versprüht Optimismus und das gute Gefühl, dass „eh“ einiges vorwärts geht und prinzipiell alle teilhaben können. Raphael Kiczka will theoretisch das ganze Establishment, inklusive Kellner, umwerfen. Er pocht darauf, dass selbst das „Rote Wien“ seinen hochgelobten Wohnbau niemals ohne Hungerrevolten und die unabhängige Siedlerbewegung umgesetzt hätte. Genauso wenig gäbe es ohne Proteste heute die Arena, das WUK oder das Amerlinghaus. „Betteln reicht oft nicht, das RAS muss erkämpft werden“, sagt Kiczka.
Dass trotzdem beide Initiativen ganz Ähnliches tun und wollen, ist augenfällig. Über die theoretische Kluft gibt es offenbar viele Brücken. Egal wer von welcher Seite startet, Treffpunkt wäre idealerweise die Stadtutopie von morgen, am besten noch heute.
Der Autor, Michael Schwendinger, hat Internationale Entwicklung und Volkswirtschaft studiert und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.
Links.
Recht auf Stadt Netzwerk Wien
Verein "Lokale Agenda 21 Wien"