Vorurteil: fremd und gefährlich. Männlichkeit im Kontext von Migration und Flucht.

Der lange Sommer der Migration.
Im Sommer 2015 verlassen hunderttausende Menschen ihre Heimat in Syrien, dem Irak und anderen Ländern, um in Europa um Asyl anzusuchen. Viele Menschen sind solidarisch und helfen, die Ankommenden zu versorgen. Im selben Sommer wird auch der Begriff der „Willkommenskultur“ geprägt; Fotos von geflüchteten Menschen, die „Danke“-Schilder in die Kamera halten, prägen die österreichische Medienlandschaft.
Wenige Monate später kommt es in Köln zum Eklat: In der Silvesternacht werden am Kölner Hauptbahnhof zahlreiche Frauen von Männern sexuell belästigt, bedroht und bestohlen. Was tatsächlich geschehen ist, bleibt lange unklar. Die Herkunft der Täter hingegen scheint bald festzustehen. In Medienberichten wird von nordafrikanischen oder arabischen, muslimischen Männern geschrieben. Der Vorfall tritt eine hitzige Debatte über Werte und Integration von Geflüchteten los.
Paul Scheibelhofer spricht von dieser Silvesternacht in Köln als „Medienereignis“, ohne damit die Übergriffe verharmlosen zu wollen. Die Titelblätter der Süddeutschen Zeitung, des Focus Magazins oder der Wochenzeitung Falter zieren Bilder von dunkelhäutigen, übergriffigen Männern und wehrlosen, weißen Frauen. Es kommt zu einer Vermischung von Sexismus und Rassismus: der gefährliche, fremde Mann einerseits und die zu beschützende, handlungsunfähige westliche Frau andererseits.
Bilder machen Politik.
Die Geschehnisse in Köln hatten großen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zum Thema Migration und Flucht. „Restriktionen in der Migrationspolitik bedürfen gesellschaftlicher Legitimation“, erklärt Scheibelhofer und verweist damit auf die Verschiebung von Machtverhältnissen nach Monaten gelebter Willkommenskultur. Kritisiert werde heute nicht mehr die Festung Europa, sondern das Verhalten von geflüchteten Menschen. Diese Kritik habe sich in der Berichterstattung über Köln entladen. Alice Schwarzer, Journalistin und streitbare Feministin, sprach nach den Übergriffen in der Silvesternacht gar von „den Folgen falscher Toleranz“. Das Bild vom geflüchteten, weinenden Familienvater weiche dem des gewaltbereiten, konservativen, meist jungen Mannes. „Diese Verschiebung von Repräsentationen wird für restriktive Politik genutzt, was in Österreich an der Asylobergrenze oder der nationalen Notstandsverordnung zu beobachten ist“, meint Paul Scheibelhofer. Die mediale Berichterstattung über gewalttätige geflüchtete Männer trage dazu bei, einen Aufschrei aus der Bevölkerung bei derart drastischen politischen Maßnahmen zu verhindern.
Man(n) wird nicht als Mann geboren.
Für eine umfassende Analyse thematisiert Paul Scheibelhofer männliche Gewalt generell.
„Die meiste Gewalt wird zwar von Männern ausgeübt, aber trotzdem sind nicht die meisten Männer gewalttätig!“, so seine These. Gewalt von Männern sei immer Ausdruck der Reproduktion von Machtverhältnissen, um die eigene Machtposition zu erhalten. Zudem sei männliche Gewalt immer in kulturelle Ansichten über Mann und Frau eingebettet. Wie konstruiert sich Männlichkeit vor dem Hintergrund patriarchaler Geschlechterverhältnisse? Ebenso wie Weiblichkeit sei Männlichkeit ein soziales Konstrukt: Was als männlich angesehen wird, variiere je nach Zeit, Ort und herrschenden Rollenbildern. Paul Scheibelhofer stellt hier hegemoniale Männlichkeit und Formen von Männlichkeit, die sich nicht an der vorherrschenden Form orientieren, gegenüber. „In jeder patriarchalen Gesellschaft gibt es Männer, die nicht das erreichen, was es zu erreichen gilt, was als Norm gilt“, erklärt er und fügt hinzu, dass sich die Definitionen dieser Norm immer wieder verschieben, auch im Hinblick auf Migration. Es gebe verschiedene Zuschreibungen von „fremden Männern“, die sich zwischen Begehren (Das sind noch richtige Männer! Der hat noch die Hosen an!) und Abneigung (Die respektieren keine Frauen! Das sind alles Machos!) bewegen.
„Den einen Mann“ gibt es nicht!
Paul Scheibelhofer zieht den Schluss, dass es „das eine“ Männlichkeitskonstrukt nicht gebe. Diskurse über fremde Männer seien immer in Machtverhältnisse eingebettet. Die gesellschaftliche Entwicklung müsse sich wegbewegen vom Integrationsimperativ (Wenn du hier bist, musst du so sein/dich so verhalten!) und hin zu antirassistischer und feministischer Solidarität.
Alev Korun (Die Grünen), die sich aus dem Publikum meldet, sieht das ähnlich: „Es fehlen Räume zum Austausch zwischen geflüchteten Menschen und jungen Männern und Frauen in Österreich, gerade was Geschlechterbeziehungen angeht.“ Ziel müsse es sein, Geflüchtete in die politische Praxis, etwa von Organisationen oder Fluchthelfer*innen, zu integrieren, um voneinander lernen zu können. Übergriffe seien zu verurteilen, man dürfe sie aber nicht als Legitimation für Ausgrenzung instrumentalisieren.
Die Veranstaltungsreihe „Geschlechterverhältnisse in der Einwanderungsgesellschaft“ möchte Raum für eine faktenbasierte Diskussion schaffen: Innerhalb des Spannungsfelds Frauenbild, Sexualität und Einwanderungsgesellschaft gilt es Vorurteile zu entkräften, ohne unangenehme Themen zu tabuisieren. In diesem Rahmen sprach Sozialwissenschafter und Geschlechterforscher Paul Scheibelhofer (Universität Innsbruck) am 29. September 2016 im Depot über die öffentliche Wahrnehmung von „Männlichkeit im Kontext von Flucht und Migration“. Scheibelhofer arbeitet zu kritischer Männlichkeitsforschung, Sexualpädagogik sowie Rassismus und Migration an der Universität Innsbruck. Veranstaltet wird die Themenreihe von Sigrid Maurer und Albert Steinhauser in Kooperation mit der Grünen Bildungswerkstatt Wien.
(Die nächste Veranstaltung der Themenreihe „Geschlechterverhältnisse in der Einwanderungsgesellschaft“ findet am 21. Oktober zum Thema „Feminismus und Islam. Welchen Einfluss hat Religion auf Geschlechterrollen?“ um 18:30 Uhr im Depot, Breitegasse 3, statt.)
Die Autorin Valentina Duelli hat Politikwissenschaft und Internationale Entwicklung an der Universität Wien studiert und ist Mitglied der Redaktion der Grünen Bildungswerkstatt Wien.