Wir müssen ganz schnell langsamer werden – (k)eine Synthese
Wir müssen ganz schnell langsamer werden - Wie der Titel des Vortrags schon andeutet, stehen wir vor einer widersprüchlichen Herausforderung. Wie Andreas Novy betont auch Peter Heintel - der die Aufgabe hatte, eine Synthese der diesjährigen Sommerakademie vorzunehmen - die Notwendigkeit dialektischen Denkens. Synthesen hingegen versuchen Widersprüche aufzulösen. Deshalb widmete sich Heintel angesichts der allgemeinen Beschleunigungstendenzen noch einmal fokusiert zentralen Ursachen, Auswirkungen und möglichen Handlungsstrategien.
In den heutigen Konsumprodukten stecken Ursehnsüchte der Menschheit
Betrachtet mensch die Geschichte, so wird laut Heintel klar, dass Menschen von Beginn an unersättlich waren. Die Wünsche nach Allmacht und Allwissenheit waren seit jeher Teil der Gesellschaft, heute allerdings scheint deren Erfüllung erstmals greifbar zu sein. Bisher in Mythen, Märchen und Religionen sorgsam verwahrt, ermöglichen uns technologische Innovationen nahezu unendliches Wissen, die Möglichkeit binnen einiger Stunden den Erdball zu umkreisen und sogar andere Planeten zu erkunden. Der Computer, das Smartphone, das Auto - all diese Produkte täuschen uns die lang ersehnte Wunschbefriedigung vor allmächtig, allgegenwärtig und allwissend zu sein, jederzeit. Doch, wie der Mensch nun einmal ist: das reicht nicht, wir wollen mehr! Somit bleibt immer ein unbefriedigter Rest in uns zurück, egal wie viel wir konsumieren, denn wohlbekannt: Glück kann mensch nicht kaufen. Selbst die Ware der Waren, das Geld, welches gegen jede andere Ware eintauschbar ist und somit die perfekte Synthese zwischen Sicherheit und Freiheit verspricht, verliert seinen Wert wenn wir es ausgegeben.
In der Neuzeit sind wir alle Individuen geworden
Eine weitere Neuerung, welche die Neuzeit für Heintel mit sich bringt, ist die zunehmende Individualisierung der Menschen. Waren früher Kollektivität und Gemeinsinn prägend, sucht heute alle Welt nach dem sogenannten „Ich“. Auch wenn dieses nur selten auffindbar ist, muss über diverse soziale Kanäle das Bild dessen, was jede*r von seinem „Ich“ hat, repräsentiert werden. Und ein erfolgreiches Ich, das etwas leistet, ist immer ein besseres. Das kann natürlich kaum besser als über Konsum zur Schau gestellt werden.
Was wir dabei allerdings völlig übersehen, ist dass wir längst zu Sklaven unserer technologischen und zivilisatorischen Errungenschaften geworden sind. Die Allmacht und das Allwissen sind nicht mehr unter Kontrolle der Gesellschaft, vielmehr hat sich eine Kultur der Sachzwänge und der Alternativlosigkeit breit gemacht. So manche Politiker*innen versuchen diese Erkenntnis durch „Scheinaktivität“ zu vertuschen. Denn der Aktionismus ist ein effizienter Abwehrmechanismus gegen Ohnmacht, stellt Heintel fest. Die Probleme und die Krisen sowie das Leid, welches dieser Lebensstil mit sich gebracht hat, werden mittlerweile zwar wahrgenommen, aber gehandelt wird nirgendwo.
Wir stecken mitten im menschlichen Muster der Krisen(un)bewältigung fest
Peter Heintel und seine Kolleg*innen haben vier Reaktionsmuster im menschlichen Krisenmanagement ausgemacht, die ziemlich exakt den Stillstand der momentanen Politik und Wirtschaft, in Anbetracht der multiplen Krise, erklären. Zuerst wird verleugnet, dass es überhaupt einen Konflikt oder eine Krise gibt. Wenn das Problem zu groß wird, um es zu ignorieren, wird versucht eine*n Schuldige*n zu finden, um die Verantwortung abzustreifen. Dadurch gerät die Ursache der Problematik meist völlig in den Hintergrund und in weiterer Folge wird die Krise schicksalsgläubig hingenommen, denn „es musste ja so kommen, da kann man gar nichts machen!“. Im letzten Stadion der versuchten Krisenbewältigung soll der Konflikt dann möglichst schnell beseitigt werden, egal wie nur ganz schnell, insofern werden auch keine durchdachten Entscheidungen mehr getroffen oder gar daran gedacht, an die Wurzel der Probleme zu gehen. In dieser Phase stecken wir soeben!
Was sind eigentlich die Ursachen der Beschleunigung und damit der Krise?
Peter Heintel macht fünf Ursachendimensionen aus, in denen folglich auch gehandelt werden müsse.
1. Die ökonomisch, betriebswirtschaftliche Ideologie der Konkurrenz hat sich mittlerweile in allen gesellschaftlichen Bereichen durchgesetzt, sogar an den Universitäten. Diese Tendenz muss dringend und in allen Teilbereichen aufgehalten werden.
2. Die technologische Dimension der ständigen, beschleunigten und unkontrollierten Innovationen, der eine Grenze gesetzt werden muss.
3. Das Organisationsprinzip von Massen und Großgruppen, das Überhand gewinnt, sei es in der Schule, dem Krankenhaus oder im Unternehmen. Dieses lässt keinerlei Rücksicht mehr auf individuelle Bedürfnisse zu. Es müsste die Variabilität wieder erlernt werden, die Individualität und Anpassung an unterschiedliche Situationen erlaubt.
4. Die physikalische Dimension des Menschen, welche am schwierigsten zu verändern ist, aber zumindest können wir uns ihr bewusst werden. Grundsätzlich sind wir nämlich dazu veranlagt, in Angstmomenten, also z.B. der Krise, zu flüchten oder völlig hirnlos aggressiv zu werden. Das verhindert die dringend notwendige Analyse der Situation, sowie die intelligente Krisenbewältigung, die an die Wurzel geht.
5. Die metaphysische Dimension. Damit spricht Heintel die laut ihm wichtigste Ursache an: den allgemeinen menschlichen Umgang mit Leben und Tod sowie der Endlichkeit. Der Tod ist durch seinen inneren Widerspruch das besorgniserregendste Phänomen für den Menschen. Denn mit absoluter Sicherheit wissen wir, dass wir nichts über ihn wissen, mit derselben Sicherheit wissen wir jedoch auch, dass er das einzig Unvermeidbare unseres Lebens ist. Die heutige Gesellschaft hat den Glauben an ein jenseitiges Paradies überwiegend aufgegeben, was das Leben als letzte Gelegenheit erscheinen lässt und viele Menschen reagieren mit dem Bedürfnis, das Leben zu verdichten, alles hineinzupacken und es damit zu beschleunigen. Dies ermöglicht eine Illusion der Todesüberwindung, sozusagen einer der Urwünsche des Menschen.
Die einzige Zeitdimension, die der Mensch beherrschen kann, ist die technische!
Zu guter Letzt gibt Peter Heintel noch einen genauen Überblick zu unterschiedlichsten Anschauungsformen der Zeit. Einzig beherrschbare Zeitform ist die technische, auch technomorphe Zeit genannt, sie wird durch die Uhr repräsentiert. Diese anorganische Dimension ist die am meisten zu beschleunigende. Die restlichen Zeitformen sind noch relativ unberührt vom Menschen: die biomorphe, die sich in den natürlichen Biorhythmen der Natur, des Menschen, der Tiere und der Jahreszeiten ausdrückt; die psychomorphe, mit welcher die jeweils autonomen Zeitmuster von Emotionen und psychischen Prozessen gemeint sind; die soziomorphe, welche die Dynamiken von Gruppen sowie die Zeithorizonte von Konflikt- und Krisenbewältigung beinhalten; und zum Schluss die Zeit des Festes, die einzige Zeit, bei der es bis zu einem gewissen Grad gelingt, aus den anderen Zeitmustern auszubrechen, durch Freude, Genuss und Rausch - im gesunden Maße eine Notwendigkeit! Vielleicht sollte sich die Gesellschaft wieder bewusster machen, dass weder natürliche Rhythmen noch die Unvermeidbarkeit des Todes überwunden werden können und stattdessen die wertvolle Zeit des Lebens auszukosten ist anstatt Zeit im Schnelldurchlauf zu vergeuden.
(K)eine Synthese?
Somit kann auch mit Peter Heintel zu dem Schluss gekommen werden: die unkontrollierte Beschleunigung und die multiple Krise sind hausgemacht! Im unersättlichen Verlangen nach Macht und einem ständigem „Mehr“ hat sich der Mensch selbst zum Untertan seiner Produkte gemacht. Um uns aus den scheinbaren Sachzwängen zu befreien, müssen wir uns die Zeit aktiv nehmen, zum Denken, zum Kreativ-sein und zum gemeinsamen Handeln. Im Sinne von Robert Jungk sollten wir uns als die Beteiligten wahrnehmen, die wir sind, und endlich den „Scheinaktionismus“ hinter uns lassen, um gemeinsam Alternativen zu schaffen!
Die Autorin Julia Seewald hat Politikwissenschaften studiert und ist stellvertretende Obfrau der Grünen Bildungswerkstatt Wien.
Peter Heintel studierte Mathematik, Physik, Philosophie und Germanistik. Außerdem hat er Ausbildungen in Gruppendynamik, Organisationsberatung und eine Kaufmännische Ausbildung als Geschäftsleiter. Er ist emeritierter Professor für Philosophie und Gruppendynamik an der Universität Klagenfurt deren Gründungsrektor er war, sowie Institutsvorstand des Interuniversitären Instituts für Forschung und Fortbildung (IFF) sowie u.a. Gründungsobmann des Vereins zur Verzögerung der Zeit.
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