Wir sind Demokratie!

Kurz nach 19:00 Uhr geht es los. Moderatorin Maria Ebner von Horizont 3000 begrüßt das Publikum: Die Krisen hätten in vielen Ländern Europas zu einer Verschlechterung der Lebensumstände geführt und junge Protestbewegungen seien entstanden. „Nach Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise sind die Menschen auf die Straße gegangen und haben mehr Mitbestimmung eingefordert.“ Wie aber sieht mehr Mit- und Selbstbestimmung aus? In welchem politischen System wollen wir leben? Welche Bewegungen und Initiativen sind von Madrid bis Reykjavik entstanden und was waren beziehungsweise sind ihre konkreten Anliegen?
Filmemacher Eric Brinkmann und Drehbuchautorin Annette Brüggemann haben sich auf den Weg gemacht, diese Fragen zu beantworten.
2011 – Jahr des Protests.
Am 15. Mai 2011 beginnen in Spanien die Proteste. Empörte (Indignados) kritisieren in der in Madrid entstehenden 15-M-Bewegung (Movimiento) soziale, wirtschaftliche und politische Missstände. Die Sehnsucht nach Wandel ist im krisengebeutelten Spanien besonders hoch. Menschen können ihre Wohnkredite nicht mehr bedienen, Zwangsräumungen stehen an der Tagesordnung, die Krise fordert Menschenleben.
Laut dem Philosophen und Literaturtheoretiker Michael Hardt vertrauen die Bürger*innen der Politik nicht mehr. Der Mitautor von „Demokratie! Wofür wir kämpfen“ spricht von einer „korrupten Demokratie“ und der „Sehnsucht der Menschen nach Selbstbestimmung“.
Im September darauf formiert sich in New York Occupy Wall-Street als größte Protestbewegung Nordamerikas. Die Aktivist*innen fordern: Schluss mit der Spekulation von Banken und kein Einfluss der Wirtschaft auf die Politik!
Schließlich erschallt in Frankfurt im Oktober der Occupy-Schlachtruf „Wir sind die 99 %!“ Die Aktivist*innen machen auf Ungleichheiten im Kapitalismus und Demokratiekrise aufmerksam.
Vom Punk zum Bürgermeister.
Die Kamera reist weiter auf die Insel aus Feuer und Eis: 2008 traf die Finanzkrise Island besonders hart. Das veranlasst 2010 die Bürger*innen von Reykjavik dazu, einen Außenseiter zum Bürgermeister zu machen: den Komiker, Musiker und Schriftsteller Jón Gnarr . „Kreativität und Träumen sind in der Politik verloren gegangen“, beklagt Gnarr in der Doku. Er möchte Geld und Gier zurückdrängen und konzentriert sich daher statt auf profitorientierte Investoren lieber auf Natur und Nachhaltigkeit. „ Island könnte eine perfekte Freihandelszone werden“, schwärmt Gnarr, der in seinem früheren Leben ein waschechter Punk war. Auf der Internet-Plattform „Besseres Reykjavik“ könne jede*r Bürger*in Verbesserungsvorschläge für die Hauptstadt machen und mitbestimmen. Mit der Beteiligungsquote weit unter 20 Prozent ist er noch nicht ganz zufrieden. Engagement sei ein langwieriger und anstrengender Prozess, den man lernen müsse, räumt Gnarr ein. Aber: „Wir sind politische Amateure und haben es trotzdem geschafft, politische Stabilität in Reykjavik zu erreichen. Das ist ein Oxymoron, ein Paradoxon, eine wertvolle Erfahrung für uns alle.“
Piraten, Gemeinwohl, Schuhrebell, Futurzwei.
Der Film bringt noch weitere Beispiele neuer demokratischer Bewegungen und Prozesse. Er macht Halt bei der 2006 gegründeten Piratenpartei in Deutschland, die mit dem Internet-Beteiligungs-Tool „Liquid Feedback“ die Bürger*innen begeistern wollte. Der Erfolg der Partei ist inzwischen verblasst.
Anders der Erfolg der Gemeinwohl-Ökonomie, eines solidarischen Gegenentwurfs zum konkurrenzbasierten Raubtierkapitalismus. Die von Christian Felber ins Leben gerufene Bewegung erhält regen Zulauf in Österreich, Spanien, Deutschland und der Schweiz. In der Gemeinwohl-Ökonomie sollen ethische Produkte billiger werden als unethisch produzierte, zum Beispiel durch Reduktion der Mehrwertsteuer, erklärt Felber im Film.
Schuhrebell Heini Staudinger, dem die Finanzmarktaufsicht vorwirft, er habe sich wie eine Bank verhalten, um Kapital für seine Schuhwerkstatt einzusammeln, sagt im Interview: „Es ist nicht im Sinne der Demokratie, dass Menschen sich nicht demokratisch organisieren dürfen. Wir sind auf Eigeninitiative angewiesen und es liegt an uns, das gute Leben anders zu organisieren.“
Gegen Schluss macht das Filmteam noch Station bei Harald Welzer. Der Sozialpsychologe hat 2012 die Berliner Stiftung und Internetplattform Futurzwei gegründet. Damit will er Vorbilder gegen Konsumtotalitarismus oder Ressourcen ausbeutendes Wachstum mit ihren Geschichten vor den Vorhang holen. Er sagt: „Die meisten Menschen glauben, die Welt ist nicht veränderbar. Sie ist aber eine Kippfigur. Alles könnte anders sein.“
Raum, Zeit und Bildung.
„Um Demokratie zu leben, braucht eine Gesellschaft öffentlichen Raum – und zwar physischen und virtuellen“, leitet Brigitte Kratzwald die Diskussion im Anschluss an den Film ein. Beteiligung brauche aber auch Bildung, Transparenz, Medien und – besonders wichtig – Zeit: nicht nur für Beteiligungsaktivitäten, sondern auch für die Aneignung von Bildung. „Beteiligung lernen wir in der Schule nicht.“ Bedingungsloses Grundeinkommen und deutliche Arbeitszeitverkürzung müssten in den Demokratie-Diskurs einbezogen werden. So bekämen Menschen Zeit, sich in demokratische Entscheidungsprozesse einzubringen.
Staatsform in Bewegung.
Hans Asenbaum erklärt, der heutige Demokratie-Begriff werde vor allem als Staatsform gedacht. „Demokratie definiert sich über die Wahlen alle fünf Jahre.“ Tatsächlich sei Demokratie aber ein Prozess und Tun – und kein Zustand. Das hätten etwa der Arabische Frühling und die Occupy-Bewegung verdeutlicht. Interessant sei, dass der Arabische Frühling für eine repräsentative Demokratie gekämpft habe, während die Occupy-Bewegung genau diese Herrschaftsform kritisierte. Trotzdem seien beiden Bewegungen nach Michael Hardt drei kennzeichnende Merkmale einer Demokratie-Bewegung gemeinsam, erklärt Asenbaum. „Erstens Plätze besetzen, zweitens waren beide Bewegungen führungslos und drittens haben sie sich für Commons und Soziales eingesetzt.“
Der Urgedanke von Demokratie sei: „Gleiche Beteiligungschancen aller.“ Dabei sollten alle Bereiche in einer Gesellschaft demokratisiert werden, zum Beispiel Wirtschaft, Bildung, Gesundheitswesen.
Paradoxon und Dilemma.
Eine Stimme im Publikum zeigt folgendes Paradoxon auf: „Wenn ich heute wählen gehe, zementiere ich damit nicht ein System ein, mit dem ich unzufrieden bin?“ Kratzwald lässt diese Kritik gelten und ergänzt: „Demokratie ist ein Prozess, der mit den Mitteln des Systems das System zu überwinden versucht.“ Das sei ein Dilemma, denn das Parlament wolle sich zum Beispiel nicht selbst abschaffen. „Als Island sich im Zuge der Finanzkrise eine neue Verfassung von unten schrieb, hatte das Parlament das letzte Wort.“ Dieser Umstand habe das isländische Demokratie-Experiment zum Scheitern gebracht. Asenbaum meint, man solle beides tun: „Sowohl wählen gehen, als auch sich in zivilgesellschaftlichen Initiativen engagieren.“ Inzwischen ist das Scheppern und Klirren an der Bar lauter geworden. Film und Diskussion haben die Menschen durstig gemacht.
Die Autorin, Karina Böhm, hat Sozial- und Wirtschaftswissenschaften studiert und ist Mitglied im GBW-Redaktionsteam.