Zeit für ein gutes Leben für alle!
„Mit sich selbst, den Freund*innen und der Familie glücklich sein sowie ein sorgenfreies Leben führen können“. Dieses Ziel dominiert in der heutigen Gesellschaft, die ihre Zukunftsentwürfe immer stärker ins Private verlagert. Diesem Wunsch gegenüber steht jedoch eine Realität der Beschleunigung, des Zeitmangels und des um sich greifenden Burnouts. Diese Phänomene haben System - sie sind selbstgemacht, von der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft. Alles was „gemacht“ ist, ist allerdings veränderbar. „Wie“ ist jedoch die zentrale Frage unserer Zeit!
Wie kam es zum gegenwärtigen „rasenden Stillstand“?
Für Novy ist die heutige Beschleunigung Produkt eines langen, historischen Prozesses des technologischen Fortschritts sowie sozialer Beschleunigung. Die Vormoderne, also das prä-industrielle Zeitalter, war noch überwiegend landwirtschaftlich geprägt. Somit war das Zeitverständnis von Kreisläufen und Zyklen dominiert. Die Rhythmen der Natur, Jahreszeiten und Tiere gestalteten dabei auch den menschlichen Lebenszyklus. Innerhalb einer feudalen, ständischen Gesellschaft reproduzierten sich auch Beruf und soziale Stellung innerhalb der Familie. Mit dem Eintritt der Moderne und der Industrialisierung wurden natürliche Produktionsprozesse durch technische Innovationen zunehmend beschleunigt. Damals ging es Ökonomen wie Adam Smith allerdings noch um „Verbesserungen“ und nicht um „Wachstum“ als Summe aller Wirtschaftsleistungen. Diese Zielorientierung ging mit einem linearen Zeitverständnis, einem Entwicklungsgedanken und damit verbundenen politischen Projekten einher. Durch die Einführung des Sozialstaates wurden die errungenen Verbesserungen für die allermeisten spürbar. Individuelle Lebensentwürfe wurden möglich sowie sozialer Aufstieg. Stabilität und Sicherheit gingen eine dialektische Beziehung mit Freiheit und gesellschaftlicher Mobilität ein.
Die Wellenreiter*innen des postmodernen, neoliberalen Kapitalismus
Im neoliberalen Kapitalismus, in dem das Finanzkapital dominant geworden ist, wird das Zeitverständnis kurzfristiger und es macht sich das Gefühl breit, sich auf einer nach unten fahrenden Rolltreppe zu befinden - wir müssen Rasen, um zumindest nicht abzustürzen. Auch das Planen innerhalb der Wirtschaft, Politik oder des persönlichen Lebens wird schwieriger. Der zunehmenden Beschleunigung tritt deshalb vor allem im Politischen eine Erstarrung entgegen. Der Slogan Thatchers: „There is no alternative“ wurde zum Dogma. Die Menschen und die Politik werden immer “situativer”, das heißt wenn sich eine Gelegenheit ergibt, muss sie sogleich am Schopf gepackt werden. Wir sind zu Wellenreiter*innen geworden, die jede Welle nehmen, wie sie kommt, ohne Anspruch „zu neuen Ufern aufzubrechen“. Ohne klares Ziel vor Augen entsteht vor allem in der Politik eine Form des „Durchwurstelns“, Meinungen und Strategien ändern sich von Tag zu Tag, je nachdem, wie es gerade besser passt. Opportunismus wird handlungsleitend.
In Anbetracht der gravierenden Probleme, vor denen unsere Gesellschaft steht – Klimawandel, multiple Krise, hohe Jugendarbeitslosigkeit, zunehmender Hunger u.a. – wirkt die zunehmende Beschleunigung wie ein geschickt insziniertes Ablenkungsmanöver.
Hören wir auf Wellen zu reiten und segeln wir anstatt dessen zu neuen Ufern!
Was folgt daraus? Es gelte, so Novy, uns wieder Zeit zu nehmen, um uns diesen wichtigen Fragen zu widmen. Und es braucht eine Abkehr von einem neuen Fatalismus, der Entwicklung als Schicksal sieht. Es braucht die Zuversicht, dass unsere Zukunft nicht vorbestimmt sondern durch uns gestaltbar ist. Diese Einsicht überwinet Fatalismus und ermächtigt zu gemeinsamen gestaltenden Handeln! Aufgabe grüner Politik ist für Andreas Novy demnach, wieder Wünsche an die Zukunft zu formulieren, gemeinsame Projekte zu entwickeln und diese aktiv umzusetzen. Es gilt aufhören mit einem Wellenreiten, das uns immer wieder zum selben Strand zurücktreibt, und wieder aufzubrechen zu neuen Ufern. Segeln ist hierbei ein gutes Bild, weil es menschliche Planung mit natürlichen Bedingungen, Möglichkeiten und Begrenzungen verknüpft! Als ein erstrebenswertes politisches Projekt, die grüne Vision eines Zivilisationsmodells des 21. Jahrhunderts schlägt er den Schwerpunkt das Gute Leben für Alle vor. An diesem Schwerpunkt orientiert die Grüne Bildungswerkstatt seit 2010 ihre gemeinsame Bildungsarbeit. Dieses muss jedoch im Gegensatz zur Epoche des Wohlfahrtskapitalismus nachhaltig erzielt werden. Daher geht es nicht um eine Ausweitung der Geldeinkommen und öffentlicher Sozialtransfers, sondern darum, dass lebenswichtige Dienstleistungen und Infrastruktur – wie öffentlicher Verkehr, Bildung, Spitäler und Altersvorsorge – in bester Qualität und kostenlos, bzw. für alle erschwinglich vorhanden sind. Wohlstand muss also vom Geldbesitz und rein materiellen Reichtum entkoppelt werden, stattdessen benötigen wir eine gute ökologische Infrastruktur und ausreichend Zeit, das gute Leben auch zu genießen. Zeitwohlstand ist somit ein wesentliches Element einer nachhaltigen Zivilisation.
Aber ohne Umverteilung von privaten Vermögen und einem allgemeinen Kampf für eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeitverkürzungen wird dies nicht verwirklichbar sein. Es braucht die Besteuerung der über die letzten Jahrzehnte entstandenen riesigen Vermögen, um diese Infrastruktur zu finanzieren. Auf dieser Grundlage kann mit viel Kreativität, Energie und intelligenten, motivierten Menschen eine grüne Suchbewegung für ein gutes Leben für alle gestartet werden, die auch Spaß macht. Öffentliche Parks, Bäder und Begegnungszonen können geschaffen und für alle zugänglich gemacht werden; lokale, regionale und nachhaltige Nahversorgung/-erholung gewährleistet werden; Nachbarschaftshilfe, leistbare, öffentliche Infrastruktur in allen Bereichen gefördert werden.
Gemeinsam schaffen wird das!
Um dieses Gute Leben für alle umsetzen zu können muss allerdings jede*r im eigenen Umfeld ansetzen. Astrid Rössler, frisch gebackene Landeshauptmannstellvertreterin in Salzburg, versucht dies im politischen Alltag umzusetzen. Ihre schwierigsten Herausforderungen sind es das Privatleben nicht völlig in den Hintergrund geraten zu lassen, den eigenen Qualitätsansprüchen an die politische Arbeit treu zu bleiben und sich die rebellische sowie in die Tiefe denkende Seite zu bewahren. Nur wenn es im Leben genügend Möglichkeiten zum Inne halten und reflektieren gibt, kann auch in der Politik nachhaltig gearbeitet werden. Denn jemand, der bereits übermüdet und ausgelaugt in die Arbeit geht, lässt sich viel leichter dazu hinreißen, Entscheidungen leichtfertig oder gar ohne Nachprüfung zu fällen. Wenn nur noch die Zeit zum Schnell- durchhudeln bleibt, lässt mensch sich auf die allgemeine Beschleunigung ein und stimmt ihr passiv zu! Wer jedoch Aufmerksamkeit, Zuwendung, Empathie und Wertschätzung an den Tag legt, kann langfristig das Arbeitsumfeld als Ganzes beeinflussen. Wenn mensch langsamer und bedachter arbeitet, hält das den ganzen Prozess positiv auf und regt andere ebenfalls zum bewussteren Arbeiten an. Für Rössler ist vor allem Geduld eine unverzichtbare Tugend, auch wenn es ganz schnell zu Veränderungen kommen muss. Andreas Novy spricht in diesem Zusammenhang vom wichtigen Spannungsverhältnis zwischen Eigen- und Weltverantwortung, jede*r muss individuell eine Balance herstellen und beim politischen Kampf immer das eigene Wohlbefinden im Blick behalten!
Wir müssen den eingelernten „Sofortismus“ wieder los werden!
Auch Volker Plass, Sprecher der Grünen Wirtschaft, stimmt der notwendigen Verlangsamung und Besinnung zu! Der „Sofortismus“, mit dem in den letzten Jahren in Wirtschaft und Politik Entscheidungen getroffen und Meinungen formuliert wurden, muss dringend abgestellt werden. Seiner Meinung nach ist es wichtig, endlich einzusehen, dass wir durch zusätzliche Schulden nicht mehr Wohlstand generieren können. Während aber monetäre Schulden mit einem Schlag getilgt werden können (auch wenn dies vielfältige ökonomische und soziale Konsequenzen hat), so sind Schulden in der Natur irreversibel, wir müssen das, was wir haben, gerecht aufteilen und uns alle vom Irrglauben verabschieden, dass ein ständiges Mehr an Wachstum und Reichtum möglich wäre. Insofern plädiert auch er, wie Andreas Novy, für eine Entkoppelung des Wohlstands von materiellen Gütern. Genügsamkeit ist angesagt, und diese muss nicht notwendigerweise mit Verzicht einhergehen! Wenn ich zum Beispiel mein Auto verkaufe, könnte ich das ersparte Geld nicht gleich wieder ausgeben, sondern dem Wirtschaftskreislauf langfristig entziehen, indem ich mir mehr Freizeit und weniger Erwerbsarbeit gönne. In diesem Falle gewinne ich durch materiellen Verzicht qualitativ, hochwertiger Zeit. So sieht auch Plass Arbeitszeitverkürzung als notwendigen, ersten Schritt in Richtung „Gutes Leben für Alle“.
Die Autorin Julia Seewald hat Politikwissenschaften studiert und ist stellvertretende Obfrau der Grünen Bildungswerkstatt Wien.
Andreas Novy ist seit 2010 Geschäftsführender Obmann der Grünen Bildungswerkstatt, Professor am Institut für Regional- und Umweltwirtschaft der WU mit Spezialisierung in Entwicklungsforschung, Stadt- und Regionalentwicklung. Er führte zahlreiche Forschungsprojekte zu Stadt- und Regionalentwicklung, insbesondere „Social Polis – Social Platform on Cities and Social Cohesion“ und die Schul-Wissenschaftskooperation „Ungleiche Vielfalt“, außerdem ist er Kuratoriumsvorsitzender der ÖFSE (Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung).
Astrid Rössler ist Landeshauptmann-Stellvertreterin in Salzburg, Landesrätin für Naturschutz, Umweltschutz, Gewässerschutz, Gewerbeangelegenheiten, Raumordnung und Baurecht sowie Landessprecherin. Sie studierte Rechtwissenschaften, war zehnjährige Mitarbeiterin der Salzburger Landesumweltanwaltschaft, ist seit 2000 selbständige Unternehmensberaterin und Mediatorin, Lektorin am ITH Klessheim (Sustainable Tourism) und Mitglied der Strategiegruppe Partizipation (Lebensministerium & ÖGUT).
Volker Plass ist Bundessprecher der Grünen Wirtschaft, seit 1995 selbstständig als Grafikdesigner tätig, lebt und arbeitet in Purkersdorf und Wien. Von 1991 bis 2003 war er Bezirksrat und Klubobmann der Grünen in Wien Meidling. 1999 gründete sich die Grünen Wirtschaft, dessen Bundessprecher er seither ist. Seit 2000 hatte er unterschiedlichste Funktionen in der Wirtschaftskammer-Organisation inne, unter anderem: Mitglied des Erweiterten Präsidiums der WKÖ, Delegierter zum Österreichischen Wirtschaftsparlament, Member of the European Parliament of Enterprises.
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